Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle hat in seinen Romanen immer wieder den amerikanischen Traum von Freiheit und Unabhängigkeit paraphrasiert. Der war stets verbunden mit der Unterwerfung der Natur. Allerdings erleiden seine Protagonisten stets Schiffbruch. Das ist diesmal nicht anders.
Die US-amerikanische Seele ist bis heute von der Pionier-Mentalität der Siedler geprägt. Insofern steht auch der jetzt in deutsche Sprache übersetzte Roman «San Miguel» in bester amerikanischer Tradition. Allerdings ist es keine Heldensaga, seine Protagonisten erleiden persönliche Niederlagen. Doch diesmal sind die still und leise, keine wie sonst bei Boyle übliche gewalttätige Eruptionen oder explosive Konfrontationen.
Historische Tatsachen dramatisieren
Sendungen zum Thema
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Die Szenerie – eine karge, nur mit Gestrüpp und Gräser bewachsene Insel vor der Küste Kaliforniens, die allein zur Schafzucht taugt. Von ihr versprechen sich zwei Familien ihren Lebensunterhalt. Die erste, die Waters, kommen 1888 an, verlassen die Insel nach fünf Monaten und kehren schliesslich für einige Zeit wieder zurück. 1930 ziehen die Lesters nach San Miguel und bleiben zwölf Jahre. Beide Familien haben tatsächlich existiert. Während von der ersten nur ein Tagebuchfragment erhalten ist, hinterliessen die Lesters gleich zwei Biographien.
T.C. Boyle stützte sich also auf Fakten, als er sich das Inselleben weitab der Zivilisation ausmalte. Genau das macht für ihn das Vergnügen des Schreibens aus, «sich vorzustellen, wie sich die Betroffenen gefühlt haben».
Strafe Inselalltag
Das Inselleben ist anstrengend und dem Haus der Familien fehlt jeglicher Komfort. Es gibt weder fliessend Wasser noch Bad oder Toilette. Für Marantha Lester ist das feucht-kalte Klima eine Katastrophe, sie leidet an Tuberkolose und ihre Krankheit verschlimmert sich dramatisch. Schliesslich muss sie in ein Krankenhaus auf dem Festland überführt werden. Ihre Tochter Edith empfindet das als Befreiung. Sie ist wieder unter Menschen und beginnt Musik und Schauspielerei zu studieren. Doch als ihre Mutter stirbt, zwingt sie ihr Stiefvater Will, mit ihm auf die Insel zurückzukehren.
Edith hasst das einsame, mühsame Leben und den misstrauischen Stiefvater dermassen, dass sie alles unternimmt, um fortzukommen. Schliesslich gelingt ihr die Flucht. Sie empfindet den Traum von der Unabhängigkeit als Alptraum, als grausame Strafe.
Pionierglück
1930, als Millionen Amerikaner auf der Suche nach einer Arbeit hungernd durchs Land ziehen, kommen die Lesters auf die Insel. Sie sind völlig auf sich selbst gestellt und fernab der Gesellschaft. Das macht sie zu einem willkommenen Objekt für die Medien, die sie einer faszinierten Öffentlichkeit wie eine Pionierfamilie aus der Zeit des Wilden Westens vorführen. Die Lesters werden im ganzen Land berühmt. T.C. Boyle zeigt die Kehrseite dessen: Die Lesters mussten hart schuften und waren auf ihren Gönner, einen Millionär, angewiesen.
Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, werden zwei Soldaten auf der Insel stationiert. Das Zusammenleben gestaltet sich schwierig, zeigt ihre Anwesenheit doch Herbie Lesters deutlich, dass sein Traum von absoluter Unabhängigkeit eine Illusion ist. Die Insel untersteht jetzt der Marine. So wie sein Vorgänger, der Bürgerkriegsveteran Will Waters, ist auch der Erst-Weltkriegs-Offizier Herbie körperlich und psychisch angeschlagen. Auf der Insel wollen sie genesen, fernab von jeder Bevormundung. Beide zeichnet für Boyle eine typisch amerikanische Geisterhaltung aus: «Ein antiautoritärer Zug: Komm mir bloss nicht zu nahe und Vorschriften akzeptiere ich nicht! Ich such mir meinen eigenen Weg.» Doch den gibt es nicht mehr.
Der Genuss des Unglücks
Für den amerikanischen Schriftsteller ist jeder neue Roman der Versuch «seine Grenzen ausdehnen und ganz unterschiedliche Dinge zu erkunden». Er hasst es, sich zu wiederholen. «Ich wollte ausprobieren, ein Buch aus der Sicht von Frauen zu schreiben.» Der Leser sieht also alle Ereignisse aus dem Blickwinkel der drei Frauen. Sie haben einen Haushalt zu bewältigen, in dem es an Vielem fehlt. Die Errungenschaften der amerikanischen Zivilisation – Fehlanzeige. Und es mangelt an frischen Lebensmitteln. Die Frauen spenden den Männern Trost, erziehen die Kinder und kümmern sich um die Schafscherer. Es sind, der Zeit entsprechend, klassische Frauenrollen. Sie ordnen sich unter, begehren nicht auf, schlucken ihre Enttäuschungen runter. Und der Lohn ist letztlich Unglück.
Was wäre ein Roman ohne Drama: langweilig. Gemütlich im Lehnsessel, die Katze auf dem Schoss, ein Glas Wein in der Hand, kann man erleichtert aufseufzen: «Mein Gott, was für entsetzliche Dinge erlebt nur diese Frau. Ist das nicht was Schönes?» T.C. Boyle, wie er leibt und lebt. Er kann sich doch nicht verleugnen, auch wenn er diesmal einen sehr ruhigen und gelassenen Ton gefunden, seinen Spott gezügelt, seine Ironie zurückgenommen hat. Was aber bleibt, sind drei beeindruckende Frauengestalten. T.C. Boyle zeigt sich als einfühlsamen Erzähler.