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Etty Hillesum – die unbekannte Tagebuchschreiberin aus Amsterdam
Aus Kontext vom 16.01.2024. Bild: imago/Album
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Tagebücher von Etty Hillesum Die letzte Postkarte warf sie aus dem Zug nach Auschwitz

Die bewegenden Schriften der jüdischen Niederländerin Etty Hillesum über die deutsche Besatzung sind nun auf Deutsch zu lesen.

«Der Himmel ist voller Vögel, die Sonne scheint mir aufs Gesicht, und direkt vor unseren Augen geschieht ein Massenmord, es ist alles so unbegreiflich.» Das schreibt Etty Hillesum in einem Brief, am 8. Juni 1943.  

Die jüdische Niederländerin hilft im Durchgangslager Westerbork, wo sie kann. Sie weiss genau, was hier los ist. Von ihren Erfahrungen während der deutschen Besatzung berichtet sie in ihren Tagebüchern und Briefen.  

Der Roman, der nie geschrieben wurde

«Etty Hillesum will die Chronistin dieser Zeit werden», sagt der emeritierte Theologieprofessor Pierre Bühler, der Etty Hillesums Gesamtwerk erstmals auf Deutsch herausgegeben hat. «Das schreibt sie auch in ihren Tagebüchern.» Material, das nach dem Krieg als Grundlage für einen Roman dienen soll. Doch dazu kommt es nicht: Etty Hillesum stirbt am 30. November 1943 in Auschwitz, 29-jährig.  

Schwarz-weiss Aufnahme einer jungen Frau, die ihre Gesicht mit ihrer Hand stützt
Legende: Die Tagebücher der Niederländerin Etty Hillesum (1914 -1943) sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein bewegendes Dokument des Holocaust. Wikimedia Commons

Hillesum wächst in einer niederländischen Kleinstadt auf. Das Judentum spielt in der Familie kaum eine Rolle. «Das war damals typisch für viele jüdische Familien in den Niederlanden», sagt Katja Happe, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Ladelund. «Sie verstanden sich hauptsächlich als Niederländer und nicht als Juden.» 

Progressiv und psychisch belastet

Mit 18 geht Etty Hillesum nach Amsterdam, um Jura zu studieren. Sie ist eine emanzipierte Frau und geht oft Liebesbeziehungen mit älteren Männern ein. «Sie lebt in progressiven Studentenkreisen und engagiert sich in einer antifaschistischen Gruppe», erzählt Pierre Bühler. In ihren Tagebüchern schreibt sie jedoch, dass sie Depressionen habe.

Diese lässt sie bei Julius Spier behandeln, einem jüdischen Deutschen. Er hat die Psycho-Chirologie entwickelt, eine Therapieform, die die psychische Veranlagung des Menschen an den Händen abliest. Etty Hillesum ist von der Therapie und vom Therapeuten angetan: Sie werden ein Paar. «Julius Spier hat ihr wohl zum Tagebuchschreiben geraten, um ihre Persönlichkeit zu bearbeiten.» 

Ein Buch mit dem Namen «Etty Hillesum» liegt auf einem Tisch, auf dem Cover ist eine junge Frau zu sehen
Legende: In Westerbork erinnern heute alte Güterwagen an das einstige Durchgangslager. IMAGO / Pond5 Images

Als die deutsche Wehrmacht die Niederlande im Mai 1940 überfällt, ist Etty Hillesum 26 Jahre alt. Jetzt ändert sich das Leben der jüdischen Minderheit in den Niederlanden: «Jüdinnen und Juden durften nicht mehr Handel treiben, nicht mehr alle Berufe ausüben, wurden als Juden gekennzeichnet», so Katja Happe. Die Deportationen in die Vernichtungslager begannen im Juli 1942.  

Buchhinweis

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Etty Hillesum: «Ich will die Chronistin dieser Zeit werden». Aus dem Niederländischen von Christina Siever und Simone Schroth. Herausgegeben von Pierre Bühler. C.H.Beck, 2023.

Durch die Zuschreibung als Jüdin findet Etty Hillesum zu einem tiefen Glauben. «Sie hat eine Art fluide Religion, die nicht an eine Konfession gebunden ist», sagt Pierre Bühler. Bald arbeitet sie im Durchgangslager Westerbork für den Judenrat. Eine ambivalente Organisation: Die Nazis beauftragen den Rat, die Deportationen vorzubereiten: Dafür werden die Mitglieder selbst nicht deportiert.  

Ein «Massenschicksal»

Etty Hillesum will sich nicht verstecken, um der Ermordung zu entgehen. «Spielt es eine grosse Rolle, ob ich es bin oder ein anderer, ob dieser oder jener?» schreibt sie 1942 in ihr Tagebuch. «Es ist jetzt ein ‹Massenschicksal› geworden.» 

Dann verliert auch Hillesum den Schutz des Judenrats und wird mit ihrer Familie am 7. September 1943 deportiert. «Wir haben dieses Lager singend verlassen», schreibt sie auf eine Postkarte, die sie durch eine Ritze des Güterwaggons auf dem Weg nach Auschwitz wirft. «Wir werden drei Tage unterwegs sein. Danke, dass ihr euch so lieb um uns gekümmert habt.» Es ist das letzte Zeugnis dieser tapferen Chronistin ihrer Zeit.

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Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 16.01.2024, 9:00 Uhr

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