Comologno im hintersten Onsernone-Tal war so arm, dass selbst der Kirchturm davon zeugte: «Dem Dorf schlägt keine Stunde. Seit Jahren geht die Kirchenuhr nicht mehr. Ihre Zeiger sind abgebrochen. Nutzlos liegt der Kranz der Ziffern um die leere Scheibe. Die Zeit steht hier still.»
Aline Valangin notiert in ihrem zweiten, um 1945 geschriebenen Roman «Dorf an der Grenze» akribisch, wie ein abgelegenes Dorf an der Grenze zu Italien den Zweiten Weltkrieg durchlebt. Das Dorf ist fiktiv und gleichzeitig hyperreal, ein Hallraum allgemeiner gesellschaftlicher und moralischer Strukturen.
Eine facettenreiche Frau
Aline Valangin war die Enkelin des einzigen Schweizer Friedensnobelpreisträgers Élie Ducommun. Ihr Grossvater prägte sie tief. Valangin war perfekt dreisprachig – in Vevey geboren, in Bern aufgewachsen. In Zürich wurde ihr Salon Zentrum der Kulturszene der 1920er-Jahre. Später wurde sie im Tessiner Dorf Comologno zur Herbergsmutter für exilierte Künstlerinnen und Künstler aus ganz Europa.
Sie war Pianistin, Psychoanalytikerin, Bohemienne und wurde erst mit über fünfzig Schriftstellerin. Sie verkehrte mit Dadaisten, dem Kreis um Max Bill und war geschätzte Gesprächspartnerin von James Joyce.
Valangin machte eine Lehranalyse bei C. G. Jung und hatte eine Affäre nach der anderen, meist mit berühmten Männern wie Ignazio Silone oder Kurt Tucholsky. Darin stand sie ihrem Mann, dem russisch-jüdischen Staranwalt Wladimir Rosenbaum, in nichts nach. Als die beiden 1917 heirateten, vereinbarten sie eine offene Ehe.
Blick fürs grosse Ganze
Aline Valangin hätte Stoff für mehrere Schlüsselromane gehabt. Aber als sie in Comologno zu schreiben begann, fokussierte sie sich auf die Menschen im Dorf und nicht auf die Kunstschaffenden, denen sie in ihrem Palazzo eine Heimat auf Zeit bot.
Für den Historiker Peter Kamber, der eine fulminante Doppelbiografie über Aline Valangin und Wladimir Rosenbaum schrieb, ist sie mit ihrem Roman «Dorf an der Grenze» eine veritable Dorfsoziologin. Es ist erstaunlich, wie Valangin mit ihrem Material umging: Sie schrieb fast in Echtzeit und hatte trotzdem einen schier perfekten Blick für grössere Zusammenhänge.
Die Schweiz als Puppenstube
Erstmals erlebte sie den Faschismus hautnah, als sie ihren Mann 1933 an einen Prozess in Vaduz begleitete. Peter Kamber: «Damals sah sie zum ersten Mal richtige Nazis. Ihr wurde angst und bange und sie sagte, man lebe in Zürich fast noch wie in einer Puppenstube.»
Das Ehepaar erkannte die Zeichen der Zeit. Es betrieb Fluchthilfe, half, jüdischen Besitz zu retten, startete Kampagnen. Aber dann verlor Rosenbaum in einer beispiellosen antisemitischen Hetzkampagne seine berufliche Existenz.
In «Dorf an der Grenze» konzentriert sich Aline Valangin ganz auf die Bewohner eines fiktiven Grenzdorfs im Onsernone-Tal. Dieser Mikrokosmos ist Schweiz als Puppenstube pur. Themen wie Obrigkeitsgläubigkeit, Profitdenken und mangelndes Engagement schälen sich deutlich heraus. Ohne moralischen Zeigefinger erscheint eine verschonte Schweiz, die nur solidarisch ist, wenn es sie nichts kostet.
Da wundert es nicht, dass «Dorf an der Grenze» erst Anfang der 1980er-Jahre publiziert wurde. Nach Kriegsende war Kritik nicht erwünscht. Noch nicht einmal eine so ruhig und menschenfreundlich vorgetragene wie jene in Aline Valangins packendem Roman.