Die Menschen im Osten Deutschlands schweben «in einer Zwischenwelt». Sie leben irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart und finden «weder Halt noch Orientierung». Sie sind mit «Raumfahrern» gemeint, die ziellos durch die Unendlichkeit des Weltalls gleiten.
Dies schreibt der in Görlitz an der deutsch-polnischen Grenze lebende junge Autor Lukas Rietzschel in seinem neuen Roman «Raumfahrer». Es ist sein zweiter nach dem viel beachteten Debüt «Mit der Faust in die Welt schlagen» von 2018 zu den Ursachen der politischen Radikalisierung im Osten.
Eine zerfallende Welt
Im Zentrum von «Raumfahrer» steht die Figur des gut 30-jährigen Jan. Er arbeitet im Spital der sächsischen Kleinstadt Kamenz. Allerdings nicht mehr lange: Das Spital wird geschlossen, da die Menschen fehlen.
Jan erlebt seine Umgebung als eine Welt im Rückbau: Abwanderung, Abriss von Plattenbauten, Schulschliessungen, Verlust von Arbeitsplätzen, Frühpensionierungen am Laufmeter.
«In meiner Kindheit», erinnert sich der 1994 geborene Rietzschel im Gespräch, «glaubte ich lange, frühpensioniert zu sein, sei ein Beruf, den man lernen könne. Es gab kaum eine Familie in meinem Umfeld, die nicht davon betroffen war.»
Sprachlos im Umgang mit der Vergangenheit
Jan wurde kurz vor dem Mauerfall 1989 geboren. Er kennt somit die Diktatur und ihr Erbe nur aus den Erzählungen seiner Eltern.
Aber genau damit hapert es: Die Mutter trinkt sich zu Tode, der Vater ist verstockt. Jan erfährt – wenn überhaupt – nur in Bruchstücken von früher: vom Erleben des Unrechtsstaats DDR, von den Grosseltern zur Zeit der Nazis.
Eine Box voller Rätsel
Jans tristes Leben erfährt in jenem Moment eine jähe Erschütterung, als ihm ein flüchtig Bekannter einen Schuhkarton überreicht. Dieser enthält zahllose ungeordnete Dokumente, die einen gewissen Günter Kern betreffen.
Die Papiere erzählen von der ganzen Monstrosität des DDR-Staats, von der Kern offenbar betroffen war: gescheiterter Fluchtversuch, Bespitzelungen durch die Stasi, Verrat, Kollaboration mit dem Regime.
Auf dem Karton steht Jans Name. Doch was hat dies mit ihm zu tun? Er kennt diesen Kern ja gar nicht.
Verstörende Geschichte
Jan forscht nach. Und mehr und mehr kommt die Wahrheit ans Licht. Und der junge Mann realisiert, dass die in den Papieren dokumentierte verstörende Geschichte Kerns auch mit seinem Leben verbunden ist.
Und er begreift, dass er, der Nachgeborene, direkt betroffen ist von den Traumata der älteren Generation: Sie haben sich auf ihn übertragen. Und stehen nun dem Zukunftsglauben im Weg. «Er gehörte dazu», heisst es im Roman, «er war ein Raumfahrer wie sie.»
Reale Grundlage
Den Schuhkarton, schreibt Lukas Rietzschel am Ende des Romans, den gibt es wirklich. Auch Günter Kern. Er lebt bis heute in Kamenz und hat dem Autor vor ein paar Jahren eine Schachtel mit Dokumenten übergeben, die sein Leiden zur Zeit der DDR dokumentieren.
Günter Kern ist der Bruder von Hans-Georg Kern. Dieser floh 1957 in den Westen und wurde dort unter dem Künstlernamen Georg Baselitz zu einem berühmten Maler. Etwa durch seine «Heldenbilder», die sich als satirische Kommentare auf den von Nazis und Kommunisten propagierten Heldenmythos lesen lassen.
Das Chaos fügt sich
Lukas Rietzschel verwebt die Geschichte des fiktiven Jan und die fiktionalisierten Geschichten der realen Gebrüder Kern mit grosser Kunst. Dabei hüpft der Autor virtuos zwischen den Figuren hin und her, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Am Ende fügen sich all die Mosaiksteine schliesslich zu einem Gesamtbild des tristen Zustands der ostdeutschen Gesellschaft. Die Ursachen – so zeigt es dieser Roman – liegen zu einem guten Teil im verfehlten Umgang mit der Vergangenheit.