Konkurrenzdruck, Optimierung, Flexibilität, Sparen: die moderne Arbeitswelt unterliegt ökonomischen Zwängen, die sich zunehmend verschärfen. Arbeitnehmende haben sich kurzatmig durchgepeitschten Restrukturierungen zu unterwerfen. Wer Althergebrachtem nachhängt, hat verloren.
Eine solche Geschichte erzählt Alain Claude Sulzer in seinem Roman «Unhaltbare Zustände». Auf hohem literarischem Niveau zeigt er die psychischen Erschütterungen auf, welche Betroffene durchleiden, wenn die Welt, wie sie sie kennen, ins Straucheln gerät.
Nicht mehr gebraucht werden
Der Roman schildert die Figur eines knapp 60-jährigen Angestellten mit Namen Stettler. Dieser arbeitet seit vielen Jahren bei einem Schweizer Kaufhaus als Schaufensterdekorateur. Sehr erfolgreich notabene.
Doch plötzlich stellt ihm die Geschäftsleitung einen Jüngeren vor die Nase. Man richtet Stettler aus, man wolle «neue Wege gehen». Die Gestaltung der für den Absatz wichtigen Schaufenster benötige «frischen Wind».
Mit nüchterner Sprache
Für Stettler bricht eine Welt zusammen: «Er stand abseits. (…) Man hatte sich entschieden, alles auf den Kopf zu stellen.»
Der Kaltgestellte verliert jeglichen Halt. Der routinierte Berufsmann, der über Jahrzehnte in einem Kokon der Selbstzufriedenheit gelebt hat, hadert mit dem Schicksal.
Schlafstörungen. Hass auf den neuen Kollegen. Alain Claude Sulzer schildert dies alles frei von Moralin und in einer wohltuend zurückhaltenden nüchternen Sprache.
Kulisse der Studentenunruhen
Erzähltechnisch geschickt lässt er die Geschichte zudem nicht im Heute spielen, was sie eigentlich durchaus könnte.
Der Roman spielt im Jahr 1968. Die Studentenunruhen beschäftigen die westliche Welt, auch die Schweiz. Die gesellschaftlichen Erschütterungen korrespondieren mit Stettlers innerer Verunsicherung
Jeans und lange Haare, ungewohnte Musik, Vietcong-Flaggen, Demos gegen althergebrachte Autoritäten, Strassenkämpfe mit der Polizei: Für den an die gesellschaftliche Beschaulichkeit der 1950er- und 1960er-Jahre gewohnten Stettler gerät auch die Welt um ihn herum aus den Fugen.
Wie kommen die Jugendlichen überhaupt dazu, gegen die Ordnung aufzubegehren, wie sie scheinbar immer bestanden hat? Der durch und durch apolitische Dekorateur kann sich keinen Reim darauf machen.
Verlust der Identität
Die Verwirrung ist total – und nimmt groteske Züge an. Etwa dann, als Stettler unverhofft in einer Schwulenbar landet. Bis vor Kurzem konnte er sich nicht einmal vorstellen, dass es so etwas überhaupt geben könnte. Eine Bar mit nackten Männerhintern: helles Entsetzen.
Die Handlung in diesem klugen, subtilen und bisweilen schalkhaften Roman wirkt zwar gelegentlich etwas konstruiert. Aber man folgt ihr gebannt bis ans Ende. Dort wartet die Katastrophe. Denn Stettler bleibt unfähig oder schlicht nicht willens, sich zu wandeln, obwohl die Zeiten dies längst tun.