Der fünfjährige Hardy «sieht den Mann die Leiter seines kleinen Raumschiffes hinabhüpfen und erwartet gebannt diesen letzten, ersten Schritt, gleich ist er unten angekommen, gleich steht er auf der fremden Welt.»
Der «Mann» ist Neil Armstrong, der in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 als erster Mensch den Mond betritt. Zur Erde wird er den legendären Satz funken: «Dies ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit.»
Die Mondlandung hat sich für immer eingeprägt
Der kleine Hardy verfolgt das Geschehen am TV. Er ist die Hauptfigur in Norbert Zähringers opulentem Roman «Wo wir waren». Hardy ist ein Heimkind.
Er nutzt die Gunst der Stunde. Die Heimleitung ist in der historischen Julinacht durch die Fernsehübertragung abgelenkt. Der Knabe reisst sich vom Bildschirm los und flieht aus dem Heim, in dem die Erzieher die Kinder mit brutalsten Methoden gefügig zu machen versuchen.
Hardy findet eine Adoptivfamilie, die ihn aufnimmt. Die Nacht der Mondlandung hat sich ihm für immer eingeprägt. Er wird zeit seines Lebens Grenzen nie mehr als gegeben hinnehmen – und es irgendwann bis zum Multimillionär bringen.
Parallele Geschichte der Mutter
Die Mondlandung ist in diesem Roman ein Sinnbild für die Überschreitung von unüberwindbar scheinenden Grenzen. Im All und auf Erden.
Die Geschichte von Hardy ist die Hauptroute der Erzählung. Daneben gibt es andere Handlungsstränge. Da ist zum Beispiel Hardys Mutter, von deren Existenz der Knabe gar nichts weiss. Sie ist eine verurteilte Giftmörderin.
Sie entkommt in derselben Nacht wie ihr Sohn aus dem Gefängnis und versucht ebenfalls ein neues Leben. Mit beeindruckender erzählerischer Kraft entrollt Norbert Zähringer auch ihre Geschichte.
Computergames und Dotcom-Blase
Es gibt Sprünge in die Vergangenheit, zu den Weltkriegen, und von dort zurück in die Zukunft. Wir sind mitten im Vietnamkrieg, dann in den USA der 1970er-Jahre, erleben die Zeit der ersten Computergames, die Dotcom-Blase.
Auch die Schauplätze wechseln in rasantem Tempo: Deutschland, Baltikum, Iran, USA oder Südostasien… Zeitgeschichte und Fiktion überlagern sich.
Verschiedentlich tauchen Nebenfiguren tauchen auf. Sie sorgen kurzzeitig für bunt ausgemalte Episoden – und verschwinden wieder.
Tiefgang und Pointiertheit
Immer wieder aber kehrt die Erzählung in jene historische Julinacht vor 50 Jahren zurück. Zum Glück. Denn erst dieser erzählerische Kniff gibt diesem inhaltlich reich befrachteten Roman den notwendigen inneren Halt.
In Übereinstimmung mit seinen Figuren ritzt der deutsche Autor Norbert Zähringer an den Grenzen des Erzählens: Der Roman droht immer wieder inhaltlich und formal auszuufern. Dass er am Ende doch zusammenhält, verdient Respekt.
Norbert Zähringers neustes Buch vereint vieles, was gute Literatur ausmacht: Tiefgang, Pointiertheit, Überraschung – und Unterhaltung.