Am Anfang steht eine alte Bananenkiste. Sie ist das Einzige, das Lukas Bärfuss von seinem früh verstorbenen Vater geblieben ist.
Dieser war ein Kleinkrimineller am Rand der Gesellschaft und ein Leben lang von Schulden geplagt. Der Autor habe die Kiste über Jahre hinweg im Keller gelagert, schreibt er. 25 Jahre später öffnet er sie.
Dabei stösst Bärfuss auf Stapel von Papieren: Zahlungsbefehle, Betreibungen, Strafandrohungen. Sie bringen den Sohn ins Sinnieren.
Die Herkunft ist entscheidend
Und Bärfuss fragt sich, was er von seinem Vater geerbt hat: «Ein Widerwille gegen die Herkunft befiel mich – nicht gegen meine eigene, nein, gegen die Idee der Herkunft als solcher, diese Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren.»
Die Abstammung, schreibt Bärfuss, bestimme in unserer Welt massgeblich über den Status eines Menschen. Sie zementiere bestehende Machtverhältnisse.
Konkret: Wer aus reichem Schweizer Haus kommt, bleibt in der Regel reich – auch dank dem bestehenden Erbrecht. Mit Blick auf die grosse Welt: Wer aus Afrika stammt, hat weniger Zugang zu Bildung und Reichtum und damit schlechtere Karten bei der Verteilung des Lebensglücks.
«Über die Privilegien entscheidet die Herkunft, die nationale, die kulturelle und die familiäre», heisst es bei Bärfuss. «Diese Zugehörigkeiten sind entscheidend und geregelt.»
Das Denken von Darwin
Diese Ungerechtigkeit ist für Lukas Bärfuss kein Naturgesetz. Sie ist vielmehr die Folge eines Narrativs, das sich in unseren Köpfen festgesetzt habe. Auch Wissenschaftler wie Charles Darwin hätten ihren Teil dazu beigetragen.
So habe Darwin einseitig die Abstammungslinien der einzelnen Spezies betont, um zu zeigen, welche in der Evolution Erfolg hatten und welche nicht. «Kooperation kommt nicht vor, eine Wissenschaft der Zusammenarbeit hat er nicht entwickelt.»
Kooperation statt Konkurrenz
In seinem Essay beschreibt Lukas Bärfuss ein neues Narrativ: «Die Gesetze, nach denen wir leben, sind (…) Sprache, und wenn wir also die Welt verändern wollen, müssen wir die Sprache verändern.»
Die Vision ist eine Welt, in der die Menschen kooperieren, anstatt miteinander konkurrenzieren. In Anbetracht globaler Probleme wie Klimawandel oder Migration führe kein Weg an einem Umdenken vorbei.
Ein positives Beispiel erkennt Bärfuss etwa im Modell der Genossenschaften: Sie sind demokratisch organisiert, bezahlen den Angestellten ähnliche Löhne und erlauben den Einzelnen mehr Selbstbestimmung.
Soziale Entscheidungen treffen
Für Lukas Bärfuss gibt es Grund zur Hoffnung. Denn «die Welt, in der wir uns befinden, ist eine Folge menschlicher Entscheidungen. Es gibt keine bessere Erkenntnis, wenn wir denn daraus lernen, soziale Entscheidungen zu treffen.»
Bis hierher folgt man Lukas Bärfuss' flüssig und bildhaft geschriebenem Essay gerne. Aber ist unsere Welt tatsächlich primär das Resultat von menschlichen Entscheidungen? Zweifel sind erlaubt, gibt es doch soziale und ökonomische Verhältnisse, die sich nicht so einfach per Mehrheitsbeschluss verändern lassen.
Auch wenn Bärfuss die Macht des menschlichen Willens wohl überschätzt, stellt er überzeugend die toxische Wirkung der gängigen Vorstellungen von Herkunft und Vererbung dar. Und dass die Welt ein Stück weit gerechter und humaner sein könnte, wenn man dies nur wollte.