15 Jahre lange litt Verena Stefan an Krebs, bevor sie im November 2017 an den Folgen ihrer Krankheit starb. Diese Dauer entspreche keineswegs der statistischen Norm, hält sie an einer Stelle ihrer Notizen lakonisch fest: «Frauen mit metastasiertem Brustkrebs haben durchschnittlich noch zwei bis drei Jahre zu leben. Diese Prognose habe ich seit langem überlebt.»
Sie stellt sich sodann die Frage, ob sie nicht eigentlich immer so gewesen sei: «Mein ganzes Leben habe ich der Mainstream-Realität, der Gesellschaft, dem Staat, dem Patriarchat die Stirn geboten. Vielleicht habe ich es sogar geschafft, mir ein alternatives Leben aufzubauen.»
Das Kultbuch «Häutungen»
Eine Rebellin war Verena Stefan schon in den 70er-Jahren: Sie begehrte auf gegen patriarchale Strukturen, suchte nach einer ureigenen, weiblichen Sexualität und formulierte in ihrem feministischen Buch «Häutungen» das Missbehagen einer ganzen Frauengeneration. Dieser autobiografische Erfahrungsbericht machte Verena Stefan über Nacht zur Kultfigur.
Als sie dann 2002 die Krebs-Diagnose erhielt, vertraute sie neben der Schulmedizin auch alternativen Behandlungsmethoden. Sie suchte Linderung in Mistel-Therapien, gesunder Ernährung, Yoga und Qi-Gong.
Vor diesem Hintergrund ärgert sie sich in ihren Aufzeichnungen über den oft sehr engen Horizont, den sie bei vielen Ärztinnen und Ärzten ausmachte. Häufig würden sie sich nicht einmal die Mühe nehmen, den persönlichen Berichten ihrer Patientinnen über die Alternativmedizin Gehör zu schenken: «Wenn von dieser Weisheit, diesem Erfahrungsschatz etwas seinen Weg in die Krankenhausgespräche fände, wie anders liesse sich dort kommunizieren!»
Klartext über einen schwierigen Weg
Diese Direktheit macht die grosse Qualität dieses literarischen Memoirs aus: Hier redet eine Betroffene Klartext – bar jeglicher Larmoyanz oder Naivität.
Neugierig und mutig geht Verena Stefan ihren Weg als Krebs-Betroffene. Sie strauchelt, rappelt sich auf, macht Umwege und legt ihre Verunsicherungen im Umgang mit Diagnosen und Therapie-Empfehlungen offen: «Für mich ist es ein Gefühl, als würde ich mitten in ein Dornengebüsch geführt werden, in dem man mich dann mit meinen letzten Fragen stehen lässt.»
Krebs polarisiert
Auch reflektiert sie selbstkritisch die Rolle von Kranken in unserer Gesellschaft und dokumentiert den Graben, der sich unweigerlich zwischen ihnen und den Gesunden auftut.
Warum sträubt sich in ihr alles, wenn gutmeinende Menschen ihr Hoffnung machen wollen? Ein Satz einer Leidensgenossin kommt ihr dabei in den Sinn: «Die Heilung ist ein Labyrinth, kein Wiederherstellungsprozess.»
Endlich angstfrei leben
So richtet sich dieses Krebs-Memoir nicht nur an Betroffene, sondern hält uns allen einen Spiegel vor. Und es macht Mut, weil Verena Stefan – trotz regelmässiger Rückschläge – in ihrem belasteten Leben auch Chancen erkennt. Als sie zunehmend angstfreier wird, fällt viel Druck weg: «Jetzt muss ich endlich gar nichts mehr.»
Diese persönlichen Reflektionen dokumentieren nicht nur einen jahrelangen Leidensweg, sondern lenken die Aufmerksamkeit auch auf Dinge, die heilsam wirken: Die Nähe zur Natur etwa, die tägliche Beschäftigung im Garten oder das Lesen von Gedichten.
Die See ruft
Viel Energie schöpft Verena Stefan auch aus dem Schreiben: «Schreiben ist jetzt wie ein Spaziergang am Strand, bei dem ich mich frage, wann die See mich zum letzten Mal rufen wird.»
Am 29. November 2017 endete für Verena Stefan das Leiden am Krebs. Der Tod muss für sie eine Erlösung gewesen sein. Denn der allerletzte Eintrag in ihrem Memoir zeugt davon, wie sehr sie diese Krankheit, nach all den anstrengenden Jahren, endgültig satt hatte: «Ich spüre, welchen Tribut sie von mir gefordert hat. Wir alle haben das Recht zu sterben.»