Die Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 endet für Hitler im Fiasko: Rund 150'000 deutsche Soldaten sterben in der von der roten Armee eingekesselten Stadt – in den Kämpfen, an Hunger oder an Kälte. 91'000 Mann geraten in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Nur gerade 6'000 werden je wieder nach Deutschland zurückkehren.
Die verheerende Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad hat den deutschen Vorstoss im Osten gestoppt und das Blatt in diesem Krieg gewendet. Fortan ist Deutschland in der Defensive gegen die Sowjetarmee, die immer energischer Richtung Westen vorrückt. Nicht von ungefähr kommt daher die Faszination, welche die Kesselschlacht von Stalingrad auch auf Schriftsteller ausübt: Sie ist Gegenstand von mehreren grossen und packenden Antikriegsromanen.
Heinrich Gerlach: «Durchbruch bei Stalingrad»
Das kürzlich erschienene Stalingradepos des 1908 geborenen Heinrich Gerlach beschreibt das Grauen in Stalingrad mit einer sprachlichen Kraft, die regelrecht betäubt. Der Autor erzählt aus eigener Anschauung; als Offizier in Hitlers Wehrmacht kämpfte er selbst in dieser Schlacht. Ende Januar 1943 gerät Heinrich Gerlach in sowjetische Gefangenschaft. Im Lager beginnt er zeitnah zum furchtbaren Geschehen, seine Erinnerungen in einem Roman niederzuschreiben.
Das Werk hat keine lineare Handlung. Es ist ein gewaltiges, polyphones literarisches Gemälde der Apokalypse. Da gibt es keinen ordnenden Erzähler, dafür den archaischen und chaotischen Kampf ums nackte Überleben. Zwar gibt es Haupt- und Nebenfiguren, Soldaten, Offiziere, Generäle, Reflexionen, innere Monologe und Dialoge. Aber die Beziehungen unter den entmenschlichten Wesen – sind das noch Menschen? – bleiben unbestimmt.
1950 lassen die Sowjets Heinrich Gerlach frei. Sie nehmen ihm aber das Manuskript ab und lassen es in einem Archiv verschwinden. Die Sowjets lassen keine Darstellung von Stalingrad aus deutscher Feder zu. Zurück in Deutschland schreibt Heinrich Gerlach seinen Roman ein zweites Mal. Ein Hypnotiseur hilft ihm, sich zu erinnern, was er im Lager schrieb. 1957 erscheint der Roman unter dem Titel «Die verratene Armee».
Heinrich Gerlach stirbt 1991. 2012 findet der deutsche Germanistikprofessor Carsten Gansel das Jahrzehnte zuvor konfiszierte und längst verloren geglaubte Manuskript in einem Moskauer Archiv. Vier Jahre später erscheint der Roman unter seinem Originaltitel «Durchbruch bei Stalingrad». Er ist sprachlich direkter und wirkt authentischer, als die in den 1950er-Jahren in grösserer zeitlicher Distanz entstandene zweite Fassung.
Theodor Plievier: «Stalingrad»
Der Roman «Stalingrad» des deutschen Autors Theodor Plievier (1892–1955) ist Teil seiner Romantrilogie über den deutschen Angriffskrieg im Osten während des Zweiten Weltkriegs. Im Unterschied zu Gerlach hat Plievier nie in Stalingrad gekämpft.
Plievier lebt ab 1934 im Exil in Moskau. Für seinen Roman erhält er vom Sowjetregime die Erlaubnis, abgefangene Briefe deutscher Soldaten zu lesen. Zudem darf er gefangene Wehrmachtsangehörige befragen.
Auf der Grundlage dieser akribischen Recherche verdichtet Plievier seine Darstellung zu einem eindringlichen Roman mit hohem dokumentarischem Charakter. Das Buch erscheint 1945 und wird zum Bestseller: Es ist, von gelegentlichen Stilbrüchen abgesehen, glänzend geschrieben – die erste grosse historisch-literarische Aufarbeitung, die zu Stalingrad erschien.
Viktor Nekrassow: «Stalingrad»
Wie Heinrich Gerlach kämpft auch Viktor Nekrassow (1911–1987) in Stalingrad – allerdings auf der anderen Seite: Nekrassow ist Offizier der Sowjetarmee. Kurz vor Kriegsende wird er verletzt. Noch im Lazarett beginnt er seine Erlebnisse literarisch zu verarbeiten.
Nekrassow schreibt damit aus ähnlicher zeitlicher Nähe wie Gerlach. Im Unterschied zu ihm und zu Plievier schildert er jedoch das Geschehen auf der sowjetischen Seite. Damit setzt er den Hunderttausenden Sowjetbürgerinnen und -bürgern ein Denkmal, die bei Stalingrad Opfer der deutschen Aggression wurden.
«Stalingrad» erscheint in der zweiten Hälfte des Jahres 1946 in mehreren Ausgaben einer Monatszeitschrift. Ein Jahr später kommt der Text als Buch heraus und gilt bis heute als meisterhaft geschriebener Antikriegsroman, der anhand zweier Figuren ein präzises und beklemmendes Bild des Kriegsalltags zeichnet und dabei jeden Pathos vermeidet.
Wassili Grossman: «Leben und Schicksal»
Wassili Grossmann (1905–1964) erlebt den Zweiten Weltkrieg als Kriegsreporter für die sowjetische Militärzeitung «Roter Stern». Er erregt Aufsehen mit Reportagen über die Judenermordung – etwa in Treblinka und Majdanek – und über die Belagerung Stalingrads.
In «Leben und Schicksal» verarbeitet er unter anderem seine Beobachtungen während der erbarmungslosen Kesselschlacht. Im Zentrum steht das Haus 6/1 in Stalingrad, das vor der sowjetischen Frontlinie steht und strategisch wichtig ist. Rotarmisten kämpfen einen aussichtslosen Kampf gegen die an jener Stelle überlegenen Deutschen.
Grossman gelingt es, ganz unterschiedliche menschliche Schicksale zu schildern, die allesamt räumlich oder zeitlich mit Stalingrad verbunden sind. Er verwebt sie in «Leben und Schicksal» zu einem über tausend Seiten umfassenden Monumentalgemälde einer ganzen Epoche. Der 1960 fertiggestellte Roman bleibt aufgrund seiner Kritik am Sowjetsystem bis 1990 in Russland verboten.