1. Nell Zink: «Der Mauerläufer»
Nell Zink hat den ersten Teil des 200-seitigen Romans in nur vier Tagen geschrieben – und diesen Anfang nie revidiert. Er war nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen, sondern für einen Freund: den berühmten amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen («Die Korrekturen»). Nell Zink war mit ihm wegen eines Vogelschutzprojekts in Kontakt getreten, und er war begeistert von ihrem Schreibstil. «Du solltest Schriftstellerin werden,» sagte Franzen. «Danke», erwiderte sie, «aber das nützt mir nicht viel. Ausser du hilfst mir, bekannt zu werden.» Und das tat er. Das Debüt der 52-jährigen Amerikanerin heisst «Der Mauerläufer». Es ist schräg und in halsbrecherischem Tempo geschrieben: Für den Leser liegen keine Ruhepausen drin. Gleichzeitig blitzen immer wieder kleine Lebensweisheiten auf, die zum Nachdenken anregen.
2. Jonas Karlsson: «Das Zimmer»
Jonas Karlsson erschafft in seinem Roman «Das Zimmer»eine eigenartige Mischung aus Spannung und Beklemmung – wie man sie auch in den Erzählungen von Kafka oder Gogol findet. Der Ich-Erzähler sorgt mehr und mehr für Irritation: Je länger man ihm zuhört, desto mehr schleichen sich Zweifel ein. Kann das stimmen, was der Mann über seinen Alltag in einem Grossraumbüro erzählt? Lügt er uns alle an? Oder ist er am Ende gar verrückt? Der bei uns bisher wenig bekannte Autor Jonas Karlsson führt seine Leserinnen und Leser sehr gekonnt aufs Glatteis und beweist dadurch grosses erzählerisches Können. Es erstaunt nicht, dass er mit diesem Werk erstmals weit über seine Heimat Schweden hinaus viel Applaus erhält.
3. Anne Enright: «Rosaleens Fest»
Spätestens seit ihrem Roman «The Gathering» (zu deutsch: «Das Familientreffen»), für den Anne Enright 2007 den renommierten Booker-Prize gewonnen hat, gilt die Irin als Meisterin im Ausloten von psychischen Abgründen innerhalb von Familien. Wie eine Chirurgin gräbt sie sich ins Innere ihrer Charaktere vor, durchschaut gnadenlos deren Muster, Gedanken und Verhalten. Auch als Tabu-Brecherin bekannt, entlarvt sie in «Rosaleens Fest» den irischen Mythos der «heiligen Institution Familie». Sie zeigt auf, welche fatalen Spuren die dominante, selbstsüchtige Mutter Rosaleen in den Biografien ihrer Kinder zurückgelassen hat. Im Schatten dieser widersprüchlichen, unreifen Frau konnten sie selber nie richtig erwachsen werden. Der Roman ist raffiniert gebaut: In der ersten Hälfte des Romans lernen wir nacheinander die vier Kinder kennen, bevor sie später Mutters Einladung zum gemeinsamen Weihnachtsfest folgen.
4. Richard Russo: «Diese gottverdammten Träume»
Empire Falls – so heisst vielsagend jene Kleinstadt in Neuengland, in die der US-amerikanische Autor Richard Russo sein Drama der Familien- und Beziehungsverflechtungen verlegt. Für diesen komplexen Mikrokosmos erhielt Russo 2002 den Pulitzer-Preis. Endlich wurde das Buch ins Deutsche übersetzt: «Diese gottverdammten Träume». Obwohl der sympathische Anti-Held Miles Roby mal grössere Ambitionen hatte und auswärts studierte, war er ans Sterbebett seiner geliebten Mutter zurückgekehrt, und blieb dann in Empire Falls hängen. Die Qualität des Romans liegt in einer differenzierten Figurenzeichnung und im spöttischen Witz. Dieser Witz kommt immer wieder zynisch und bitter, meist aber einfach als intelligenter Sprachwitz daher.
5. Lucia Berlin: «Was ich sonst noch verpasst habe»
Lucia Berlin, 1936 geboren, war die grosse Unbekannte der US-amerikanischen Literatur. Weitgehend erfolglos zu Lebzeiten, werden ihre meisterhaften Kurzgeschichten wie «Was ich sonst noch verpasst habe» nun wiederentdeckt. Damit auch ihr Leben, das sie von der High Society an den Rand der Gesellschaft führte. Lakonisch ist ihr Sound, ihre Geschichten sind voll mit überraschenden Wendungen und Humor. Wie auf einer Landkarte folgen sie den Stationen dieser Biographie und zeichnen dabei die Skizzen eines kurzen Abstiegs. «Handbuch für Putzfrauen» heissen ihre Stories oder «Angels Waschsalon». Sie handeln von den Verlierern, den Randständigen der amerikanischen Gesellschaft, zu denen Lucia Berlin selbst gehörte. In ihren Geschichten, die auch mal Fiktion enthalten, ist sie nie ganz Heldin, aber wirklich nie Opfer. Sie macht einfach weiter, und sie schreibt davon.
6. Benedict Wells: «Vom Ende der Einsamkeit»
Als seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, ist Jules erst zehn. Der frühe Verlust prägt sein weiteres Leben. Der deutsche Autor Benedict Wells überzeugt in seinem vierten Roman «Vom Ende der Einsamkeit» mit bittersüsser Melancholie. Der Romanheld wird für den Leser zu einem Freund. Man nimmt teil an seinem Schicksal, will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Das schafft Wells scheinbar mühelos mit einer unaufgeregten Erzählweise, einer schlichten und klaren Sprache, wie man sie sonst oft bei amerikanischen Literaten findet. In diesem zauberhaften Entwicklungs- und Liebesroman geht um einen Menschen, der ständig Angst hat, alles zu verlieren. Es geht ums Alleinsein und um die Frage «was wäre anders, wenn ich dies oder das anders gemacht hätte?». Aber auch: «Was wäre nicht anders?»
7. Rebecca West: «Die Rückkehr»
Als 1918 der Roman «The Return of the Soldier» der jungen Rebecca West erschien, war dies die erste – und bis heute einzige – belletristische Auseinandersetzung einer zeitgenössischen weiblichen Autorin mit dem Ersten Weltkrieg. In grossartiger Sprache erzählt die damals 26-jährige Engländerin, wie ein junger Gutsbesitzer zu Frau und Cousine zurückkehrt – zwar ist er scheinbar unversehrt, offenbart aber zugleich in einem Gedächtnisverlust ein Trauma, das noch über die Kriegserfahrung hinausreicht in die Abgründe seiner elitären, seelenlosen Ehe hinein. Gut erschien 2016 die deutsche Erstausgabe, denn: «Die Rückkehr» ist ein schmales Buch von grosser Erkenntnistiefe und sprachlicher Souveränität, das man unbedingt kennen sollte.
8. Charles Lewinsky: «Andersen»
«Dunkel. Nicht das kalte, fugenlose Dunkel einer Zelle. Eine warme Dunkelheit. Ich weiss nicht, wo ich bin». Das ist der allererste Satz, den wir von Jonas, dem Protagonisten, erfahren. Und erst langsam begreifen wir: Er steckt noch im Mutterbauch, ist ein Embryo. Aber ein Ungeborenes weiss doch noch nicht, was eine Zelle ist. Wie kann er also den Uterus mit einem Gefängnis vergleichen? Der Schweizer Bestsellerautor Charles Lewinsky wagt mit seinem neuen Buch «Andersen» ein Experiment. Raffiniert treibt er seine komplex gebaute Story vorwärts, macht kühne Zeitsprünge und lässt uns im Kopf eines Monsters mitreiten. Allmählich erahnen wir: Es gibt nur etwas, das diesem Teufel gefährlich werden könnte. Positive Gefühle wie Zuneigung und Liebe.
Inhalt
Literatur Von cool bis böse: Bücher für den Sommer
Bücher voller Spannung, Melancholie und Coolness. Oder eine Parabel des Bösen. Die SRF-Literaturredaktion empfiehlt acht Bücher für den Sommer – egal, ob regnerisch oder sonnig.
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