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Buch: Philipp Sterzer «Illusion der Vernunft»
Aus Kultur-Aktualität vom 06.03.2023. Bild: Heidi Schern
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 25 Sekunden.

Wahrheit und Wahrnehmung Hirnforscher: «In jeder Überzeugung steckt etwas Verrücktheit»

Wie kann es sein, dass Menschen von Dingen überzeugt sind, die nachweislich falsch sind? Dieser Frage geht der Neurowissenschaftler Philipp Sterzer in seinem neuen Sachbuch «Die Illusion der Vernunft» aus streng naturwissenschaftlicher Perspektive nach: Gespräch mit einem, der zum Schluss gekommen ist: Wir sind alle viel weniger rational, als wir uns einbilden.

Philipp Sterzer

Psychiater

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Philipp Sterzer ist seit 2022 Chefarzt der Universitären Psychiatrischen Kliniken und Professor für Translationale Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Universität Basel. Er forscht zu Schizophrenie und Wahn.

SRF: Sie fordern uns mit Ihrem Buch dazu auf, unseren eigenen Überzeugungen zu misstrauen. Weshalb?

Philipp Sterzer: Unsere Überzeugungen sind deshalb so fest und unerschütterlich, weil das eine bestimmte Funktion erfüllt: Sie verleihen uns Orientierung. Sie sind aber nicht immer darauf ausgerichtet, das wahre Bild der Welt zu zeichnen.

Auch ‹verrückte› Überzeugungen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, können eine Funktion für uns haben.

Unsere Überzeugungen spiegeln uns manchmal etwas vor, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Deswegen ist es sinnvoll, immer wieder zu hinterfragen: Ist das, wovon ich überzeugt bin, eigentlich rational?

Sie schreiben, es gebe keine klare Trennlinie zwischen krankhaften Wahnvorstellungen und den Überzeugungen psychisch gesunder Menschen gibt. Was gewinnen wir durch diese Erkenntnis?

Überzeugungen haben oft eine Komponente von Verrücktheit. Sie befinden sich auf einem Spektrum zwischen rational und komplett irrational.

Auch «verrückte» Überzeugungen, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, können eine Funktion für uns haben. Sie sind ein Mittel, uns in dieser unsicheren Welt zu orientieren und Entscheidungen zu treffen.

Was hilft dieses Wissen in einer konkreten Diskussion mit Corona-Skeptikern oder Klimawandel-Leugnern?

Es ist immer eine grosse Herausforderung, wenn man auf Menschen trifft, die komplett andere Überzeugungen haben. Es ist hilfreich, sich zu fragen, ob die eigenen Überzeugungen wirklich so rational sind, und ob vielleicht auch der andere einen vernünftigen Punkt hat.

Die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise regt dazu an, kritischer die eigenen Überzeugungen zu reflektieren.

Das heisst aber nicht, dass wir unsere Überzeugungen wie Fähnchen im Wind ändern sollen. Wichtig ist es, den anderen im Gespräch ernst zu nehmen, selbst dann, wenn seine Überzeugungen einem komplett absurd erscheinen.

Warum hat die Evolution das Verfassen falscher Überzeugungen beim Menschen nicht einfach aussortiert?

Evolutionär betrachtet, ist es sicher sinnvoll, Überzeugungen zu haben, die der Wirklichkeit entsprechen. Aber das ist nicht der einzige Faktor, der für die Ausbildung von Überzeugungen relevant ist.

Wenn zum Beispiel unsere Vorfahren etwas im Gebüsch rascheln hörten, war es für das Überleben sinnvoll anzunehmen, dass es sich um ein gefährliches Tier handeln könnte statt um einen Vogel, obwohl das viel wahrscheinlicher war. Wir gehen oft sicherheitshalber von einer gefährlicheren Variante aus. Das prägt auch unsere Überzeugungen.

Nun sagt die Psychologie schon lange, dass der Mensch nicht «Herr im eigenen Haus» ist. Was bringt eine naturwissenschaftliche Argumentation, die zum gleichen Punkt führt?

Diese Aussage wurde in der Psychologie schon lange getroffen. Meine Hoffnung ist, dass uns die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise hilft zu verstehen, warum das so ist.

Wenn man davon ausgeht, dass das Gehirn nicht einfach eine Projektionsfläche für die Wirklichkeit da draussen ist, sondern ständig mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, sich einen Reim auf die Welt zu machen, dann ist es leichter zu verstehen, warum Menschen zu unterschiedlichen Überzeugungen kommen.

Die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise regt dazu an, kritischer die eigenen Überzeugungen zu reflektieren.

Das Gespräch führte Irene Grüter.

Buchhinweis: «Die Illusion der Vernunft»

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Philipp Sterzer: «Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten». Ullstein, 2023.

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Radio SRF2 Kultur, Kultur Aktualität, 06.03.2023, 07:06 Uhr ; 

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