Sterbende Menschen im Wald: Die Idee schnappte die 78-jährige Schweizer Autorin Eleonore Frey in Japan auf: «Das Thema kommt von einer japanischen Sage: Alte Leute werden am Ende ihres Lebens von ihren Angehörigen auf den Fujiama hinaufgetragen oder in die Wälder gebracht, damit sie den anderen aus Not nicht mehr so viel wegessen.»
Anonym, aber mittendrin
Und so spielt sich die Szene in Freys neuem Roman ab: Die Leserin lernt eine Gruppe mehrheitlich älterer Menschen kennen. Auch die Erzählerin ist Mitglied dieser Gruppe.
Niemand soll namentlich genannt werden. Die Anonymen ziehen während Wochen zusammen umher, unterhalten sich über ihr Leben, sammeln Essbares im Wald und sterben irgendwann – alleine zurückgelassen und den Wildtieren zum Frass ausgeliefert.
Die Prägung des Waldes
Eleonore Frey erinnert sich gerne an einen Wald bei Flims: «Als ich ungefähr vier Jahre alt war, musste ich wegen gesundheitlicher Problemen in den Wald für ein gutes Klima. Dort habe ich mit meiner Mutter Hütten gebaut und den Wald erlebt. Das war eine intensive Prägung.»
Wie sehr Eleonore Frey den Wald schätzt, schreibt sie auf fast jeder Buchseite von «Waldleute». Zum Beispiel steht in der Mitte der Erzählung: «Der Wind in den Wipfeln. Wie er hoch über unseren Köpfen die Zweige zum Rauschen bringt und ihnen wahre Kaskaden von Klängen entlockt.»
Die Autorin schwärmt vom Wald, welche Geheimnisse er birgt und wie er riecht: «Es waren Zedern; von der Art, die einen Duft verströmt wie die Kleider, die wir zu unserer Hochzeit trugen.»
Gefahrenzone Wald
Der Wald ist aber auch bedrohlich, finster und sogar lebensfeindlich. Man kann sich darin verlaufen oder verletzt liegenbleiben. In der Erzählung bietet sich der Schauplatz Wald der Gruppe Menschen an, die sich auf den Todesmarsch begibt.
Als ein Mitglied der Gruppe stirbt, heisst es: «Wir bedeckten ihr Gesicht mit dem bunten Tuch und schaufelten mit beiden Händen Föhrennadeln und Laub auf ihre Gestalt. Was sollten wir tun, um die wilden Tiere fernzuhalten? Wir wussten sehr wohl: Es gab nichts zu tun.»
Freiraum für Interpretation
Die Schriftstellerin führt ihre Leser in den Wald und lässt sie dort immer wieder rätseln, wie eine Situation verstanden werden soll. Ziehen die Waldleute freiwillig in den Wald oder werden sie von Dritten dazu gezwungen?
Es bleibt offen, wie manche Handlungen und Aussagen der Protagonisten zu deuten sind. Das ist durchaus Eleonore Freys Absicht: « Ich wollte möglichst wenig Platz damit verschwenden, über das Drum und Dran zu berichten.» So bleibt Raum für eigene Interpretationen.
Kompakt und tiefgründig
Stellenweise stimmen die angeschnittenen Themen traurig, wenn zum Beispiel ein ausgesetztes Kind im Wald umherirrt. Gruselig wird es, wenn von einem Leichensee die Rede ist. Die Schilderung der verlorenen Liebe zur eigenen Mutter lässt Sehnsucht aufkommen.
Es ist beeindruckend, wie viel Schwere, Kälte und Hoffnungslosigkeit Eleonore Frey in die Erzählung verpackt. Der Autorin ist es gelungen, ergreifende und tiefgründige Themen kompakt auf 72 Seiten anzugehen – ohne unnötiges Geplänkel oder kreativen Ausschweifungen.
Vorstellung vom Tod
Eleonore Frey selber stellt sich den schönsten Tod als Sterben im Schnee vor: ein ruhiges Einschlafen in der Kälte und nie mehr Aufwachen. Vor ihrem eigenen Tod fürchte sie sich nicht, sagt die 78-Jährige.
Ihren Leserinnen möchte sie mitgeben: Man soll keine starren Meinungen haben, sondern flexibel und offen sein – sogar, wenn es um das eigene Sterben geht.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 13.8.2018, 17:20 Uhr