Sarah Jollien-Fardel empfängt mich vergangenen September in ihrer Wohnung in Bramois, in der Nähe von Sitten. Es ist schwierig, mit ihr einen Termin zu erhalten. Ein Interview jagt das andere, die Koffer sind für Lesereisen gepackt.
Dabei wurde erst Ende August 2022 ihr Erstling«Sa préférée» veröffentlicht. Kurz danach erhielt sie den «Prix Fnac», gewählt von Buchhändlern und Leserinnen der Fnac-Buchhandlungen in Frankreich. Das Buch schaffte es auch auf die Liste für den «Prix Goncourt», den wichtigsten Buchpreis in der französischsprachigen Welt, und wurde mit dem «Choix Goncourt de la Suisse» ausgezeichnet.
Nachbessern im Chalet
Viel Ehre für ein Buch, das fast für immer in der Schublade verschwunden wäre. Jollien-Fardel stellte den Text 2017 fertig. Ein Jahr später gab sie ihn einem befreundeten Mitarbeiter eines Verlags in Paris.
Die Chancen für eine Publikation standen gut. Doch dann verliess der Mitarbeiter den Verlag. Die Publikation war gestorben.
Von nun an legte die Walliserin ihr Buch mehreren Verlagshäusern vor, zog sich immer wieder von ihrem Mann und ihren zwei Kindern ins Chalet zurück, um den Text zu überarbeiten. Noch einmal sah es gut aus. Doch im letzten Moment entschied sich ein Verlag gegen eine Publikation.
Ein harter Schlag für Jollien-Fardel, die im Berufsleben als Literaturkritikerin für die Zeitschrift der Westschweizer Buchhandlungskette «Payot» arbeitet.
Ein Znacht bringt die Wende
«Bei einem Umzug 2021 habe ich alles weggeworfen – ausser diesen einen Text», sagt Jollien-Fardel. Die Wende kam, als sie in Paris den österreichischen Schriftsteller Robert Seethaler zum Interview traf.
Beim anschliessenden Essen sitzt auch Sabine Wespieser, die Verlegerin des österreichischen Autors in Frankreich. Beim Essen fragt Seethaler Jollien-Fardel: «Du schreibst?» «Ja, ich bin Journalistin», antwortete sie. Sie habe sicher andere Texte, hakte Seethaler nach. Dafür interessierte sich auch Verlegerin Wespieser.
Nach wenigen Tagen klingelte in Bramois das Telefon. «Erweisen Sie mir die Ehre, ihr Buch zu veröffentlichen?», fragte die Verlegerin. Eine Erlösung.
Missbrauch in den Bergen
Der Roman beeindruckt mit den Schilderungen der Gewalt innerhalb einer Familie in einer Walliser Landgemeinde in den 1970er-Jahren. Die Ereignisse prallen durch die direkte und explizite Sprache wuchtig auf die Leserinnen und Leser.
Von einem Moment auf den anderen kippt die Stimmung, verprügelt der Vater die Mutter und die beiden Töchter. Vergeht sich sexuell an der älteren Schwester. Erzählt wird alles aus der Perspektive der jüngeren Schwester, Jeanne. Im Dorf wissen viele von der Gewalt, etwa der Arzt. Aber niemand greift ein.
«Alles ist möglich»
Auf 200 Seiten beschreibt Jollien-Fardel die Vergangenheit und die Schwierigkeiten für Jeanne, sich eine Gegenwart und eine Zukunft zu schaffen. Das Milieu ist autobiografisch, nicht aber die Geschichte. Die Autorin erfuhr zu Hause keine Gewalt, hatte sehr offene Eltern.
Dennoch teilt sie die stets schwelende Wut ihrer Protagonistin Jeanne. Warum? «Weil mich am Wallis dieser Zeit zu viel aufgeregt hat. Dass Frauen nicht die gleichen Rechte wie die Männer hatten. In meinem Geburtsjahr wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt.»
Zum Wallis hat Jollien-Fardel trotz allem ein gutes Verhältnis. «Alles ist möglich», sagt sie, «das zeigt mein Parcours.»