Natürlich kann man in der Standardsprache alles sagen. Nur braucht man manchmal einen ganzen Satz, wo die Mundart ein punktgenau treffendes, klingendes und Assoziationen weckendes Wort zur Verfügung hat.
Das bairische «dramhappert» zum Beispiel, das einen Zustand halb im Traum beschreibt, oder das Schweizerische «schnäderfrässig» für den unangenehm wählerischen Tischgenossen.
Eine Serie von rund 50 solcher Wörter aus den Dialekten des ganzen deutschen Sprachraums hat die Autorin und Übersetzerin Sofia Blind in einem kleinen Buch versammelt, begleitet von ihren witzigen Erklärungstexten und den liebevollen Bildern von Nikolaus Heidelbach.
anscheuseln (Verb, Oberlausitzer Mundart)
Wer angescheuselt ist, trägt besonders geschmacklose Kleider. Bei Männern können das gemäss der Autorin Sofia Blind «auf Halbmast hängende Hosen mit hervorblitzender Unterhose» sein oder Sandalen mit weissen Socken. Bei Frauen zu weite oder zu enge Kleider – «Modell Kartoffelsack» bzw. «Modell Wurstpelle», wie es im Begleittext schonungslos heisst.
«Anscheuseln» ist eine Art Schmelzwort aus «anziehen» und «scheusslich». «Wie bist du denn angescheuselt?» Derart beleidigende Direktheit widerspricht der schweizerischen Etikette. Sie passt aber zur sprichwörtlichen «deutschen Schnauze». Die man sich hierzulande manchmal wünscht.
Fluchtachterl (Substantiv, Wienerisch)
Das allerletzte Glas Wein an diesem Abend, das Achtelliterchen kurz vor dem Aufbruch: Das ist in Wien ein «Fluchtachterl». Das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet dafür den altehrwürdigen «Scheidebecher» – den Becher beim Abschied. Andernorts nennt man dasselbe ganz prosaisch «Absacker».
Handelt es sich um Bier, ist es in der Schweiz ein «Schlummerbecher», in Hamburg das «Aufundzu», bei dem der Zapfhahn nur ganz kurz offen ist, und in München ein «Schnitt».
Gemeinsam ist all diesen Ausdrücken, dass es Euphemismen sind, also Wörter, die schönreden, dass es letztlich nur darum geht, sich noch ein letztes Glas gönnen zu dürfen.
Miendientje (Substantiv, Plattdeutsch)
Neue Dinge – neue Namen. Seltsame Ungewissheit herrscht allerdings bei einem uns allen wohlbekannten Alltagsgegenstand. Dieser dreikantige Stab, der auf dem Fliessband an der Supermarktkasse die Waren der einzelnen Kunden voneinander abtrennt: Heisst der Warentrenner, Kassentrennstab, Warenseparator oder Kundentrenner? Oder gar, wie im Internet zu erfahren ist, Kassentoblerone, weil seine Form der Toblerone-Schokolade gleicht?
Alles denkbar, aber nichts ist so liebevoll und treffend wie das plattdeutsche «Miendientje» (Aussprache: Miindiintje), wörtlich «das Mein-Deinchen». Genau das ist nämlich seine Aufgabe, «mein» von «dein» zu unterscheiden.
oschauschei (Adjektiv, Bayerisch)
Im Bairischen (Bayern und Österreich) spricht man die Vorsilbe «an-» als «oo-» aus. Das Münchner Oktoberfest wird bekanntlich eröffnet mit dem Schlachtruf «oozapft is». Und der Zwielaut «eu» klingt bairisch als «ei» – «die Leute» sind dort drum «di Leit».
Unschwer lässt sich deshalb «oschauschei» als «anschauscheu» entschlüsseln. Aber weiss man nun mehr? Mit viel Phantasie schon. «Oschauschei» ist jener Menschentyp, der den direkten Blickkontakt zum Gegenüber jederzeit und erfolgreich vermeidet. Ob das Oschauscheisein so typisch für Bayern ist wie das Wort, ist eine andere Frage.
spack (Adjektiv, Rheinisch)
Spack ist grossartig. Laut Rheinischem Wörterbuch bedeutet es «zu eng oder zu kurz, von einem Kleidungsstück». Spack sind also jene meist elastischen T-Shirts, Hemden, Leggins oder Strümpfe, «die jedes Röllchen, jede Falte des menschlichen Leibes schonungslos hervorheben oder gar auf boshafteste Weise überhaupt erst hervorrufen» (O-Ton Sofia Blind).
Die Boshaftigkeit steckt nicht zuletzt darin, dass spack so klangvoll und bildhaft an Speck erinnert. Dabei hat spack vielleicht ursprünglich genau das Gegenteil bedeutet, nämlich «dürr». Sprache kann sehr ungerecht sein.