Vor zwei Jahren entlarvte der Skandal um Harvey Weinstein die Filmbranche in ihrer sexuellen Übergriffigkeit. Das hatte Auswirkungen auf die Musikindustrie, Wissenschaft, Politik – und nicht zuletzt auch auf den Literaturbetrieb.
Dass vor zwei Wochen zwei Literaturnobelpreise verliehen wurden, statt wie üblich einem, ist eine der Nachwehen von #MeToo: Wegen Belästigungs- und Korruptionsvorwürfe gegenüber einem Mitglied der Schwedischen Akademie fiel die Vergabe 2018 aus.
#MeToo ist ein Aufschrei gegen sexuellen Missbrauch an Frauen. Er setzte auch eine Sensibilisierung in Gang, die ganz grundsätzlich danach fragt, welchen Formen von Diskriminierung Frauen am Arbeitsplatz ausgesetzt sind.
Kritiker sind vorwiegend männlich
Im Literaturbetrieb sei die Benachteiligung der Frauen heute weniger eine Frage der ungleichen Zugangsbedingungen zum Schreiben und Publizieren als eine der öffentlichen Anerkennung und Wertschätzung, sagt Veronika Schuchter von der Universität Innsbruck.
Seit 2017 erforscht die Literaturwissenschaftlerin die Geschlechterverhältnisse im Literaturbetrieb und nimmt dabei die wohl prestigeträchtigste Gilde der Literatur in den Fokus: die Kritik.
Dass der literarische Kanon bis heute vorwiegend männlich ist, liege daran, dass die Literaturkritik noch immer mehrheitlich von Männern geschrieben wird. Und das, obwohl es sowohl bei den Leserinnen wie bei den Lektoren einen klaren Überhang an Frauen gibt.
Schuchters Forschungsprojekt untersucht die Verteilung von Männern und Frauen bei der Besprechung von Belletristik in deutschsprachigen Zeitungen über einen Zeitraum von 15 Jahren.
Männer besprechen Männer
Dabei hat sie festgestellt, dass über zwei Drittel der Kritiker Männer sind. Diese besprechen deutlich mehr Bücher von Männern als von Frauen – auch hier besteht das Verhältnis 70 zu 30. Bei den rund 30 Prozent weiblichen Kritikerinnen ist das anders: Sie besprechen Bücher von Männern und Frauen zu fast gleichen Teilen.
Einen Grund für dieses Missverhältnis sieht Veronika Schuchter in der Lesesozialisation: «Frauen sind sich von klein auf gewohnt, Bücher von Männern zu lesen, sich in männliche Figuren und Narrative hineinzuversetzen.» Männer hingegen würden das umgekehrt nicht in gleichem Ausmass lernen.
Die Folgen der Ungleichheit
Das habe auch Folgen für die Gesellschaft, sagt Schuchter: «Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass Literatur uns befähigt, Empathie zu entwickeln. Werden Männer nicht sozialisiert, sich in die Lage und Perspektive von Frauen oder von hierarchisch tiefer gestellten Menschen zu versetzen, ist das ein gesamtgesellschaftlicher Verlust.»
Die mangelnde Auseinandersetzung von Männern mit Texten von Frauen schlage sich auch in ihrem Wertungsverhalten nieder, erklärt Schuchter. Deutlich werde das etwa im Sprachgebrauch. Geschlecht werde häufig bewusst oder unbewusst als Leitdifferenz auf ästhetische Fragen übertragen, sagt Schuchter: «So wird über Peter Handke nicht geschrieben, dass er extrem gefühlsbetont, autobiographisch und esoterisch schreibt – obwohl das natürlich stimmt. Das sind in der Literatur weibliche und eher abwertende Attribute. Stattdessen wird Handke als intellektuelles Genie gehandelt.»
«Zutritt von Mannes Gnaden»
Dass männliche Autoren häufiger und ausführlicher rezensiert werden, liegt nicht etwa daran, dass es weniger weibliche Autorinnen gibt. Vielmehr liege es an der Arbeits- und Werteverteilung im Literaturbetrieb, sagt Schuchter: «Viele weibliche Autorinnen schaffen es nicht über ein Debüt hinaus, weil sie nicht die gleiche mediale Aufmerksamkeit erhalten wie männliche Autoren.». Damit ist der «Zutritt der Frauen in die Medienwelt eine von Mannes Gnaden», wie sich die Literaturkritikerin Iris Radisch einst in der «Zeit» äusserte.
«Der Literaturbetrieb ist ein Mikrokosmos, in dem die gleichen Dynamiken wie in der Gesellschaft als Ganzes stattfinden», erklärt Veronika Schuchter.
Wenn die prestigeträchtige Position des Experten vor allem Männern zukommt, die wiederum vornehmlich Männern öffentliche Anerkennung zollen, begünstigt das ein gesellschaftliches Wertesystem, das Frauen weniger Anerkennung zugesteht.
Damit sich im Literaturbetrieb ein Gleichgewicht einstellen kann, muss sich die Gesellschaft verändern, sagt Schuchter: «Das Ziel ist, dass es uns gar nicht mehr bewusst werden muss, dass das Gelesene von einer Frau oder einem Mann stammt. Und, dass uns Bücher des anderen Geschlechts nicht länger als ‹zu fremd› vorkommen können, um sie zu lesen.»