«Das Land, in dem Lukas, der Lokomotivführer lebte, hiess Lummerland und war nur sehr klein.» So beginnt die Geschichte von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer. Satzweise findet sie sich bis heute in meinen Hirnwindungen.
Wenn ich an Jim Knopf denke, denke ich als allererstes an die Augsburger Puppenkiste. An verregnete Sonntage vor dem Röhrenfernseher mit tanzenden Marionetten, die über Klarsichtfolien-Ozeane dümpeln.
Und natürlich an das «Lummerlandlied» und wie meine beiden Brüder und ich versuchten, das Lied mitzupfeifen.
Später kam das Hörspiel auf Kassette dazu, das Michael Ende 1973 teilweise selbst produziert hat. Es begleitete uns bei jeder Urlaubsfahrt im Auto und wir lauschten jedes Mal wie gebannt, wie die Helden den Drachen Mahlzahn besiegten.
Von Lummerland in die weite Medienwelt
Wir haben wahrscheinlich alle eine ganz eigene Vorstellung von Jim Knopf und seinen Freunden. Diese Bilder haben auch mit der medialen Vermarktung des Stoffes zu tun.
Es gibt zahlreiche Hörspiele, Kinderopern, Musicals, eine Zeichentrickserie. Das «Lummerlandlied» wurde in den 1990er-Jahren in einer Techno-Version zum Disco-Hit. Und 2018 eroberte Jim Knopf die Kinoleinwand.
Diese Fülle an Adaptionen trage massgeblich zum Erfolg des heute 60 Jahre alten Stoffes bei, sagt Christine Lötscher. Sie forscht an der Universität Zürich zu Fantastik, Nonsens und Materialität in der Populärkultur.
«‹Jim Knopf› wird im Vergleich zu anderen Kinderbüchern immer noch relativ oft gelesen, weil er medial so präsent ist. Jede Adaption nimmt einen Aspekt des Stoffes heraus und entwickelt ihn weiter. Auf diese Weise kann man das Original immer wieder neu entdecken.»
Versteckter Rassismus?
Viele Kinderbücher aus dieser Zeit geraten heute in die Kritik, etwa «Die kleine Hexe» von Otfried Preussler oder auch Astrid Lindgrens «Pippi Langstrumpf».
Auch über «Jim Knopf» wird immer wieder diskutiert. Vor allem über die Illustrationen, also die Art und Weise, wie der Junge abgebildet sei, sagt Kulturwissenschaftlerin Lötscher.
Jim Knopf sieht aus wie geschminkt oder angemalt. «Die Illustrationen reihen sich in die Tradition des ‹Blackfacings› ein. Der Text schneidet am Ende aber sehr gut ab, weil es um Vielfalt geht und das Zusammenleben. Michael Ende war alles andere als rassistisch», so Lötscher.
Denn Jim sei die Hauptfigur und die Geschichte voller Reflektion über Vorurteile. Lindgren greife für Pippi dagegen auf populäre Klischees zurück, nur um ihre Geschichte auszuschmücken.
Streitbare Bilder, unumstrittene Botschaft
«Das Taka-Tuka-Land ist für unseren Geschmack heute schwer zu verdauen», sagt Christine Lötscher. «Bei Michael Ende stehen der schwarze Junge und Kinder aus der ganzen Welt im Mittelpunkt. Sie haben eine eigene Identität und Persönlichkeit. Darum ist das weniger heikel und klischeehaft.»
Und die Geschichte von Jim Knopf ist sogar explizit eine Botschaft gegen Intoleranz: Viele Erwachsene sehen darin einen politischen Kommentar, der uns viel punkto Toleranz lehrt.
Vor einigen Jahren entdeckte die Kunsthistorikerin Julia Voss in «Jim Knopf» Parallelen zu den Theorien der Nationalsozialisten, welche Charles Darwins Schriften für sich vereinnahmten und uminterpretierten. So wird in Michael Endes Geschichte etwa der «Halbblutdrache» Nepomuk als «Schande» bezeichnet und ausgegrenzt. Letztlich sei «Jim Knopf» ein Gegenentwurf dazu, folgerte die Kunsthistorikerin.
Erfolgsgeschichte lief langsam an
Mit dieser Geschichte gelang Michael Ende 1960 der schriftstellerische Durchbruch, 1961 wurde er für «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.
1962 erschien die Fortsetzung «Jim Knopf und die Wilde 13». Weltweit haben die beiden Bände mittlerweile eine Auflage von über 5,5 Millionen Exemplaren erreicht und wurden in 33 Sprachen übersetzt.
Dabei dauerte es, bis die Erfolgsgeschichte an Fahrt aufnahm. 12 Verlage lehnten Michael Endes 500-seitiges Manuskript zunächst ab. Erst der Thienemann Verlag erkannte das Potenzial der Geschichte.
Seit «Jim Knopf» erschien, haben die Medien Jim und Lukas immer wieder aufs Neue von der Insel Lummerland aus ihre abenteuerliche Reise antreten lassen, um Prinzessin Li Si von Mandala aus den Fängen der fiesen Drachenlehrerin Frau Mahlzahn zu befreien.
Die verschiedensten Adaptionen und Bilderwelten sind fest verankert in den Fantasien, Träumen und Erinnerungen von Millionen Leserinnen, Hörer und Zuschauerinnen. Seit Generationen.
«Riesige Bilderwelt»
Wer sich heute mit «Jim Knopf» beschäftigt, muss sich unweigerlich mit all diesen Vorlagen messen. Diesen Druck spürte auch Dennis Gansel, als er 2018 die erste Realverfilmung des Stoffes ins Kino brachte: «Das Hörspiel, die Puppenbühne – das kann man nicht toppen. Will man auch gar nicht. Aber die Geschichte ist so reichhaltig, sie verträgt verschiedene Varianten», erklärt der deutsche Regisseur.
«Jim Knopf» sei ein Märchen, eine riesige Abenteuer- und Fantasy-Geschichte. «Und ich wollte diese riesige Bilderwelt mit den heutigen Mitteln des Kinos visuell auf die grosse Leinwand übertragen», so Gansel.
60 Jahre alt und kein bisschen verstaubt
Mit rund 25 Millionen Euro war Gansels «Jim Knopf» eine der teuersten Produktionen der deutschen Filmgeschichte. Gedreht wurde in Bayern und Südafrika. Und im Filmpark Babelsberg wurde nicht nur ganz Lummerland samt seiner Berge, Tunnel und Frau Waas’ Kaufmannsladen aufgebaut, sondern auch eine komplette Vulkanlandschaft. Man müsse aufpassen, dass solch eine filmische Umsetzung mit all ihrem Bombast den Kern der Geschichte nicht zerstöre, sagt Dennis Gansel.
Gerade weil sie bis heute so aktuell sei: «Es geht um die Frage ‹Wer bin ich in dieser Welt?› Jim empfindet sich als anders, weil er eine dunkle Hautfarbe hat. Aber am Schluss ist die Moral der Geschichte, dass es völlig egal ist, wie du aussiehst. Hauptsache, du hast das Herz am rechten Fleck.»
Allein die Tatsache, dass man gemeinsam irgendwo lebt, mache uns zum Teil einer Gemeinschaft. «Es geht um Integration, auch eine Flüchtlingsthematik kann man darin sehen. Das wurde zwar vor 60 Jahren geschrieben, könnte aber aktueller nicht sein», meint Gansel.
Erst ins Heute holen müsse man den Stoff also nicht. Darum habe er sich auch stark am Buch orientiert. Aber es gibt sie auch bei ihm, die Anpassungen.
Bessere weibliche Vorbilder
Denn Michael Endes «Jim Knopf» ist, nach heutigen moralischen Massstäben betrachtet, keine unproblematische Gestalt. Der dunkelhäutige und dicklippige Junge kann weder lesen noch schreiben. Er will es auch gar nicht lernen.
«Das fanden wir merkwürdig als Botschaft. In unserer Welt hat ihm das Herr Ärmel beigebracht», sagt Dennis Gansel, der sich mit seiner Verfilmung deutlich von Klischees distanzieren will.
Das gilt auch für die Frauenfiguren. Identifikationspotenzial aus weiblicher Sicht gibt es im Roman eher wenig. Frauen werden als Hausfrauen geschildert. Prinzessin Li Si ist zwar klug, muss aber von den Männern befreit werden.
Im Film sei Li Si viel selbstständiger, sagt Gansel. «Sie bekommt eine grössere Rolle. Wir haben Li Si stärker gemacht, sind weg von der Prinzessin, die nur Angst hat.»
Die Botschaft bleibt immer dieselbe
Gansels Film und all die anderen Adaptionen des Stoffes zeigen, dass man diese Geschichte seit 60 Jahren, in jedem Alter und in ganz unterschiedlichen Formen immer wieder neu entdecken kann. Das macht Michael Endes «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» letztlich zum Klassiker.
Zwar sind ältere Adaptionen wie die Puppenkiste seit einigen Jahren von den Fernsehschirmen weitgehend verschwunden. Aufwendig produzierte Animationsfilme haben die per Hand hergestellten Puppen in der Gunst der Kinder verdrängt.
«Aber dann gibt es eben eine neue Generation, die mit anderen Medien aufwächst und ihre eigenen Jim-Knopf-Welten entwickelt. Wichtig ist doch, dass die Geschichte immer wieder erzählt wird», sagt Filmregisseur Gansel. Und die kann sich offenbar in verschiedenen Medien und Umsetzungsweisen durchsetzen. «Das ist doch eigentlich ein unglaublicher Beweis dafür, wie stark und kraftvoll die Geschichte ist.»
In jedem Kinderzimmer
Michael Ende fing die Geschichte übrigens so an, dass er den ersten Satz schrieb, ohne jedes Konzept und ohne zu wissen, wie der zweite Satz heissen und worauf das Ganze hinauslaufen würde.
«In diesem Fall», so sagte er einmal, «ist die Geschichte wirklich erst mit dem Buch entstanden, und ich war während des Schreibens zum Teil selber ganz gespannt, wie es weitergehen würde.»
Was Michael Ende sicher auch nicht ahnte: Wie populär das sehr kleine Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebt, noch 60 Jahre später sein würde. «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» ist heute aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken. Und das «Lummerlandlied» will mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.