«Ich habe kein Haus, in dem ich geboren oder aufgewachsen bin. Wenn die Rede auf den Irak kommt, quält es mich bloss, und ich empfinde meine Seele wie einen Haufen trockenes Heu. (…) Meine Geschichte ist verknüpft mit dem Schweigen darüber.»
Es ist Aida, die hier erzählt. Eine 28-jährige Frau, die aus dem Irak geflohen ist und seit über einem Jahrzehnt in der Schweiz lebt. Die fiktive Figur steht im Zentrum des subtil erzählten Romans von Usama Al Shamani. Der irakischstämmige Autor selber lebt in Frauenfeld.
Die Sprachlosigkeit
«Im Fallen lernt die Feder fliegen» ist innerhalb neuerer literarischer Aufarbeitungen zum Thema Flucht besonders: Der Roman rückt die Sprache ganz ins Zentrum, oder vielmehr den schmerzhaften Verlust der Sprache, wie er Menschen in der Fremde bisweilen widerfährt.
So wie Aida. Sie geht der Sprache aufgrund der Flucht gleich doppelt verlustig: Zum einen kann sie sich – zumindest anfänglich – in ihrer neuen Heimat kaum verständigen. Zum anderen verstummt die junge Frau auch innerlich, in ihrer Seele: Das Erlebte ist zu schmerzhaft, als dass sie die Erinnerung daran zulassen könnte.
Diffuse Identität
Aida versucht ihre Herkunft zu verdrängen, auftauchende Erinnerungen zu unterdrücken oder vom Ich abzuspalten. Als Folge verliert sie die Beziehung zu einem Teil ihres Selbsts und tut sich schwer im Umgang mit anderen.
Etwa mit ihrem Freund Daniel, der sich zwar empathisch für die Geschichte seiner Partnerin interessiert, mit seinen Fragen aber immer wieder auf Granit beisst – und schliesslich geht.
Auf der Flucht
Aida wird 1992 geboren. Sie ist mit ihren schiitischen Eltern auf der Flucht vor dem Horror der Saddam-Diktatur und gelangt nach einer Odyssee in die Schweiz. Insbesondere der Vater wird nie heimisch.
Neun Jahre lebt die Familie in der Schweiz. Aida integriert sich, spricht perfekt Schweizerdeutsch, reüssiert in der Schule. Doch nach Saddams Sturz wollen die Eltern zurück in ihr irakisches Dorf. In die Heimat.
Die Teenagerin muss an einen Ort ziehen, der ihr feindlich erscheint. Mädchen zählen nichts in der ländlichen irakischen Gesellschaft. Keine Schulbildung. Dafür soll Aida möglichst bald heiraten.
«Vater hatte uns angelogen. Das war nicht die Heimat, von der er uns in der Schweiz erzählt hatte. Alles hatte eine männliche Farbe, eine männliche Stimme und einen männlichen Geschmack.»
Die zweite Flucht
Aida flieht erneut. Dieses Mal ohne Eltern, nur mit der älteren Schwester. Auf abenteuerlichen Pfaden gelangen die beiden via Istanbul und Wien zurück in die Schweiz.
Doch der Schmerz über die fehlenden Wurzeln bleibt. Und die Unfähigkeit, darüber zu reden und das eigene Leben aktiv zu gestalten.
«Seit meiner Flucht nehme ich immer wieder wahr, dass ich mich von meinem eigenen Leben distanziere. Ich lasse die Ereignisse in meinem Leben geschehen, als gingen sie mich nichts an, fühle mich wie eine Zuschauerin im Theaterstück meines eigenen Lebens.»
Eine Stimme für die Geflüchteten
Der neue Roman von Usama Al Shahmani schildert ein Los, das stellvertretend steht für Millionen von Geflüchteten. Der Autor kennt es aus eigener Anschauung.
Er wurde 1971 in Bagdad geboren. Seine Jugend war vom Krieg geprägt. Als 30-Jähriger verfasste er ein regimekritisches Theaterstück und floh 2002 vor den Schergen Saddam Husseins in die Schweiz.
Usama Al Shahmani hat bereits mehrere Bücher auf Deutsch geschrieben, die sich mit der Lage von Geflüchteten befassen. Zuletzt den mehrfach ausgezeichneten Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» von 2018.
Heilung durch Literatur
Die Geschichte von Aida lässt der Autor hoffnungsvoll enden: Ihr Zustand verbessert sich, als sie über sich und ihre Geschichte zu schreiben beginnt.
«Es ist, als suche ich in mir nach mir selbst. (…) Das Schreiben lässt meine Gefühle in Worte fallen, sie fallen wie glühende Kohlestücke in einen fliessenden Bach, verursachen ein zischendes Geräusch, stossen ein wenig Dampf zum Himmel empor und werden dann still vom Wasser weggetragen. (…) Ich liebe die Sprache.»
So gesehen ist der Roman mehr als eine gekonnte Aufarbeitung der Flüchtlingsthematik. Er ist auch eine Hommage an die heilende Kraft des Erzählens.