In seinem neuen Roman «Der Halbbart» nimmt Charles Lewinsky dem Mythos Morgarten die Luft aus den Segeln: Die Schlacht stellt er als kleines Scharmützel gegen einen kleinen, kaum bewaffneten Habsburger-Trupp dar.
Wahr oder nicht sei egal – Menschen und Staaten brauchten Mythen, so der Schweizer Erfolgsautor.
SRF: In Ihrem Roman wird das kleine Scharmützel am Morgarten erst in der sarkastisch übertriebenen Version des Dorferzählers zur glorreichen Befreiungsschlacht der Eidgenossen. Wollten Sie mit Ihrem Buch den Mythos Morgarten zertrümmern?
Charles Lewinsky: Der Mythos Morgarten muss nicht mehr zerstört werden. Das haben Historiker schon lange getan. Man weiss ja schlicht nicht, was damals passiert ist.
Dennoch kommt Ihr Buch beim Publikum zum Teil anders an. Die Süddeutsche Zeitung schreibt etwa: «Charles Lewinsky betätigt sich als Nestbeschmutzer der eidgenössischen Sache.»
Ich finde das rührend. Es ist doch so: Man hat eine Deutung über alle anderen gestellt und beschlossen: Wir waren Helden. Und das Wichtige dabei: Es ist ein Mythos; eine schön erzählbare Geschichte, wie die tapferen Schweizer 100 Millionen angreifende Habsburger besiegt haben.
So, wie der Apfelschuss eine schöne Geschichte ist, oder der Rütlischwur. Man kann diese Geschichten wunderbar erzählen.
Ich glaube, die Menschen und auch die Staaten brauchen Mythen. Man hat ein dringendes Bedürfnis, sich mit einer schönen Ursprungsgeschichte gewissermassen selber zu begründen. Ob die genau so war oder nicht, ist gar nicht so wichtig.
Sie sind als Kind zum ersten Mal mit diesem Mythos Morgarten in Kontakt gekommen. Wie hat sich Ihr Bild davon mit der Zeit verändert?
Das ist eine mehrstufige Entwicklung. Am Anfang ist immer der naive Glaube, dann kommt mit Überlegung eher eine Protesthaltung: Was erzählt man mir da? Das ist ja gar nicht belegt!
Und dann kommt eine mildere Form, wo man sagt: Es ist gar nicht so wichtig, wie es wirklich war. Wir werden es auch nie mehr herausfinden. Wichtig ist, was wir heute mit dieser Geschichte anstellen.
Warum habe Sie gerade diesen historischen Stoff für Ihren neuen Roman ausgewählt?
Ich finde es immer wieder spannend, mich in eine andere Zeit hineinzubegeben. Hier interessierte mich die Auseinandersetzung zwischen der Talschaft Schwyz und dem Kloster Einsiedeln, das wiederum von den Habsburgern gestützt wurde.
Viel wichtiger als die Schlacht am Morgarten – ob sie stattgefunden hat oder nicht – ist meiner Meinung nach der Überfall der Schwyzer auf das Kloster.
Dass Leute, für die Religion im Mittelpunkt ihres Lebens stand, welche die Religion wichtiger nahmen als alles andere, ein Kloster überfallen und dort die Reliquien schänden. Das ist schon etwas, worüber man nachdenken kann. Wie kann so etwas passieren?
Sie schreiben über Geschehnisse im 14. Jahrhundert, über die man so wenig weiss, aber von denen doch alle irgendeine Vorstellung haben. Weshalb eignet sich eine solche Ausgangslage besonders als literarischer Stoff?
Dinge, die absolut klar sind, sind eigentlich kein literarischer Stoff. Interessant wird es dort, wo es Unschärfen gibt, Unklarheiten, verschiedene Möglichkeiten. Es gibt zum Beispiel ein Kapitel im Buch, wo es um die Ermordung eines falschen Geistlichen geht.
Die Geschichte wird gewissermassen als Anfang eines Mythos in verschiedensten Varianten erzählt. Schon damals wusste man nicht mehr: Wie war es denn wirklich? Wir haben in der Schweiz Mythen, von denen wir wissen, dass sie nicht so waren. Winkelried hat bestimmt nicht gerufen: «Erhaltet mir Weib und Kind!» Ich vermute ja, er hat gerufen: «Höred uf schupfe da hine!»
Es war mit Sicherheit nicht so, wie wir es in den Heldenlegenden lesen. Aber es ist wahnsinnig spannend, sich zu überlegen: Wie entstehen solche Mythen? Wie entsteht Geschichte aus Geschichten?
Wenn Sie damals bei der Schlacht am Morgarten dabei gewesen wären: Wo hätten Sie gestanden?
Ich wäre mit Sicherheit nicht dabei gewesen. Ich glaube, es ist ein völliger Zufall, wo man steht. Dieses fiktive Dorf, das ich erfunden habe, gehört zur Talschaft Schwyz und ist in meiner Vorstellung an einer Stelle angesiedelt, wo man zehn Minuten weiterlaufen könnte und dann würde man nicht mehr zu Schwyz gehören, sondern zu Ägeri – also zu Zug, sprich zu Habsburg.
Es ist ein völliger Zufall, wo man zur Welt kommt. Wir Schweizer vergessen das, weil wir eine Glücksnation sind. Seit 1945 geht es den Schweizern immer gut.
Wir haben völlig vergessen, dass man auch das Pech haben kann, ein paar Kilometer weiter geboren zu sein und ohne ein anderer Mensch zu sein, ein ganz anderes Leben führen zu müssen.
Das Gespräch führte André Perler.