Kafka kennt man. «Der Prozess», «Die Verwandlung», «Das Urteil»: Seine Texte sind Schullektüre. Texte, welche die Lesenden in eine rätselhaft Welt stürzen, dunkel, verwirrend und ohne Ausweg.
Aber Kafka als Künstler? Diesen Kafka kennen nur wenige. Dabei haben viele Leserinnen und Leser bereits Zeichnungen des Schriftstellers gesehen: auf den Kafka-Taschenbuchausgaben des Fischer Verlags.
Auf deren Einbände waren und sind Zeichnungen Kafkas zu sehen: schlichte Schwarz-weiss-Zeichnungen, die Strichmännchen in einer bizarren Verlorenheit zeigen.
Im Koffer vor den Nazis gerettet
Franz Kafka hat noch mehr gezeichnet. Gesehen hat diese Bilder aber so gut wie nie jemand. Trotzdem: Dass es Zeichnungen von Kafka gab, wusste man – zumindest in der Welt der Kafka-Experten, sagt Andreas Kilcher, der an der ETH Zürich als Literatur- und Kulturwissenschaftler lehrt und nun einen schön gestalteten Bildband herausgegeben hat.
Kafkas Zeichnungen, Mappen mit rund 150 Blättern, ruhten rund 70 Jahre in Schweizer Banksafes. Max Brod, Kafkas Prager Freund und Förderer, hatte die Zeichnungen zusammen mit Manuskripten 1939 in einen Handkoffer gepackt, um sie vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen.
Er reiste mit seinem Kultur-Gepäck nach Israel. Auch dort war die politische Lage unsicher. Deshalb brachte Brod die Mappen nach Zürich.
Kafka unter dem Hammer
Max Brod starb 1968. Er hatte seine Sekretärin und Lebensgefährtin Ilse Ester Hoffe zur Alleinerbin des Kafka-Nachlasses bestimmt. Er habe ihr empfohlen, den Nachlass an eine Bibliothek zu übergeben, erzählt Andreas Kilcher. «Aber sie konnte damit tun, was sie wollte.»
Und das tat sie auch: Ilse Ester Hoffe begann, kurz nachdem Max Brod gestorben war, Teiles des Nachlasses zu verkaufen. 1971 bot sie Briefe aus dem Nachlass einem Hamburger Auktionshaus an. Weitere Texte folgten.
«Der Prozess», ein dunkles Kapitel
Die Zeichnungen blieben unberührt im Safe. Noch zu Brods Lebzeiten hatte es einzelne Versuche gegeben, sie zu publizieren. Zum Beispiel vom Fischer Verlag. Doch Brod sagte ab.
Warum? «Max Brod hatte Ilse Ester Hoffe den Kafka-Nachlass bereits zu Lebzeiten als Schenkung überreicht», erklärt Andreas Kilcher. Brod hatte also längst keine Verfügungsgewalt mehr über diesen Nachlass.
Brod stand in der Literaturwelt ausserdem in der Kritik, weil er als Herausgeber der Kafka-Texte eigenmächtig gehandelt hatte. Bei der Veröffentlichung des Romanfragments «Der Prozess» etwa hatte er entschieden, wie die einzelnen Fragmentteile angeordnet werden sollen.
Brod hatte so eine Lesart vorgegeben, mit der nicht alle in der literarischen Welt einverstanden waren. Er habe Angst gehabt, dass die Zeichnungen öffentlich nicht ankämen, vermutet Kilcher.
Die Wende
Als Ilse Ester Hoffe 2007 starb, gerieten die Mappen in den Zürcher Safes wieder in die Diskussion. Ester Hoffe hatte den Kafka-Nachlass ihren Töchtern vermacht.
Die Nationalbibliothek in Jerusalem klagte dagegen – und gewann. Nach einem langwierigen Verfahren gingen die Manuskripte und Zeichnungen schliesslich 2019 aus Zürich nach Jerusalem.
Das Buchprojekt
Im Januar 2020 reiste Andreas Kilcher gemeinsam mit dem slowakisch-schweizerischen Künstler Pavel Schmidt nach Jerusalem. Kilcher wollte seine Buchpublikation zu den Zeichnungen vorbereiten. Schmidt sollte dazu eine künstlerische Einschätzung der Blätter geben.
Zwei Tage verbrachten die beiden in der Nationalbibliothek, um die Zeichnungen zu sichten – mit der Absicht, alsbald wieder zu kommen und die Blätter noch genauer zu studieren.
Doch das Corona-Virus machte ihnen einen Strich durch die Rechnung: Der Literaturwissenschaftler und der Künstler mussten alle weiteren Reisen nach Jerusalem aufgeben. Den geplanten Kunstband zu Kafkas Zeichnungen konnte Andreas Kilcher dennoch publizieren.