In meiner Jugend war ich einsam. Damals, als meine Mitschüler für die Rolling Stones, Alice Cooper oder Nazareth schwärmten, hörte ich unverdrossen Bernd Clüvers «Der Junge mit der Mundharmonika», Mary Roos’ «Nur die Liebe lässt uns leben» und Monica Morells «Ich fange nie mehr was an einem Sonntag an».
Ausser mir tat das niemand. Auch die Versuche, mich dem weiblichen Geschlecht mit Vorschlägen wie «Lass uns heute Nachmittag eine Chris-Roberts-Kassette hören», fruchteten nicht.
Das hielt mich jedoch nicht davon ab, meine Schlager in die Schule einzuschleusen. In den Religionsunterricht zum Beispiel – ein leichtes Unterfangen, weil Religionslehrer immer dankbar sind, wenn sich irgendjemand zu Wort meldet.
Pfarrer Schüle, so hiess der beklagenswerte Pädagoge, wusste genau, was hohe Kunst von niederer unterscheidet. Ich nicht. Weshalb ich ihn sowohl mit Christian Anders’ «Es fährt ein Zug nach nirgendwo» als auch mit Ingeborg-Bachmann-Gedichten konfrontierte und ihn darum bat, seine ästhetischen Kriterien an diesen Texten zu erläutern.
Meine Mitschüler interessierte das wenig. Ich jedoch lernte früh, mein literarisches Bewusstsein zu schärfen und mich nicht allzu früh mit dem Argument «Das ist doch Trivialliteratur!» zufriedenzugeben. Als Literaturkritiker zehre ich davon bis heute.
Schön und kaffeebraun
Bis heute beschäftige ich mich deshalb gerne mit Schlagern. Ich interpretiere sie als Phänomene der Alltagskultur und halte mich an Gottfried Benn Gedicht «Kleiner Kulturspiegel», in dem es heisst: «Ein Schlager von Rang ist mehr 1950 / als 500 Seiten Kulturkrise».
Ich lerne bei Vico Torriani etwas über latenten Rassismus in der Gesellschaft («Schön und kaffeebraun sind alle Frau’n in Kingston-Town»). Oder erfahre durch Ireen Sheer (in «Und heut’ Abend hab’ ich Kopfweh»), wie der Feminismus allmählich ins populäre Liedgut einzog.
Und manchmal, in Sternstunden, gelingt es mir sogar, überraschende Verbindungen zwischen leichtem Liedgut und profunder Lyrik herzustellen. Ein Beispiel gefällig? In einem Schlager Renate Kerns besucht ein junges Mädchen eine Party und leidet, da Frauenüberschuss herrscht, darunter, dass kein Mann sie ernsthaft in Betracht zieht – obwohl sie ein «hübsches Kleidchen» trägt und «schicke Beine» hat.
Folglich geht die Verschmähte zum Gegenangriff über: «Du musst mit den Wimpern klimpern, / wenn ein Boy dir gut gefällt.» Der Binnenreim «Wimpern/klimpern» gefällt mir gut, und im Fortgang der Kern’schen Charmeoffensive in diesem Lied wird – wer hätte es gedacht? – ein Bogen zur Weltliteratur gespannt.
Was die Wimper hält
Denn Renate Kerns Appell «Klimp’re, was die Wimper hält», in den ihr Schlager gipfelt, bezieht sich wortgetreu – wer hätte es nicht bemerkt! – auf Gottfried Kellers «Abendlied», das mit der Strophe schliesst: «Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld, / Nur dem sinkenden Gestirn gestellt; / Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, / Von dem goldnen Überfluss der Welt.»
Ich bedauere es sehr, diesen Zusammenhang – Literaturwissenschaftler nennen das Intertextualität – erst spät bemerkt zu haben, diese Liaison zwischen Renate Kern und Gottfried Keller. Religionslehrer Schüler hatte daran sicher seine helle Freude gehabt.