Ja, ich geb’s zu: Es ist trist, das Dasein, das meine beiden Bücher mit Werken Hölderlins viele Jahre gefristet haben.
Ich habe sie als Jugendlicher erstanden. Dann lagerten sie lange Zeit im Keller – aus Platzmangel im Büchergestell in meiner Wohnung. Im Keller, in einer Bananenschachtel, spüre ich die Bücher nun also wieder auf.
Als ich sie aufschlage, geschieht etwas Unglaubliches: Der Sprachzauber dieses süddeutschen Dichters springt mich regelrecht an. Die Faszination für Hölderlin, für den ich als Mittelschüler geschwärmt habe, ist im Nu zurück.
Zauberhaft wie eh und je
Ich öffne das Buch dort, wo die Seiten vom damaligen häufigen Gebrauch besonders abgegriffen sind, bei «Hyperions Schicksalslied». Eine Ode über die Verlorenheit des Menschen: «Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn…». Inhalt, Form, Vokale und Konsonanten: Sie alle scheinen eins zu werden.
Ich blättere weiter. «Im Arme der Götter wuchs ich gross», lese ich. Und weiter hinten: «Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen?» Zauberhaft.
Die Erinnerung kehrt zurück, wie ich als Teenager in der Schulbibliothek eine Biografie über Hölderlin ausleihe. Ich erinnere mich, wie mich das Leben dieses überaus talentierten aber zutiefst verletzlichen Menschen damals berührte.
Perfekt für die Pubertät
Etwa wie Hölderlin sich in eine Frau verliebte, die verheiratet war. Die Liebe wurde zum Ding der Unmöglichkeit.
Umso mehr stilisierte Hölderlin sie in seinen Gedichten zum Frauenideal schlechthin. Seine Diotima, wie er sie nannte. Ich kenne keinen anderen Schriftsteller, der leidenschaftlichere Liebesgedichte geschrieben hätte.
In «Hyperion», Hölderlins einzigem Roman, las ich damals Sätze wie diese: «Was ist alles, was in Jahrtausenden die Menschen taten und dachten, gegen einen Augenblick der Liebe?» Dies traf meine Befindlichkeit als Pubertierender perfekt.
Begegnung im Thurgau
Hölderlin unterrichtete als Hauslehrer die Kinder vornehmer Familien. Einmal, 1801, fand er für kurze Zeit eine Stelle in der Schweiz, in Hauptwil im Kanton Thurgau. Der Zufall wollte es, dass damals, als ich mich als Jugendlicher für Hölderlin begeisterte, eine Schulreise durch das verträumte Dorf führte.
Ich suchte den Ort, wo Hölderlin unterrichtet hatte. An einem der alten Häuser fand ich eine Gedenktafel. Ich weiss noch genau, dass ich mich in jenem Moment «meinem Hölderlin» besonders nahe fühlte.
Noch immer viele Rätsel
Ich verstand als Teenager längst nicht alles, was dieses Ausnahmetalent geschrieben hatte. Und auch heute, bei der erneuten Lektüre, bleibt mir vieles rätselhaft.
Aber ich spüre viel Mitgefühl für Hölderlin, diesen Einzelgänger, der nach künstlerischer Vollkommenheit strebte, dabei zutiefst einsam blieb und psychisch zerbrach.
Das war 1806, in der Mitte seines Lebens. Hölderlin sei «unheilbar wahnsinnig» geworden, diagnostizierte ein Nervenarzt. Hölderlin erholt sich nicht mehr: Über drei Jahrzehnte lebte er in geistiger Umnachtung.
Aktueller Dichter
Heute fasziniert auch anderes als damals. Hölderlins innige und schwärmerische Liebe zur Natur etwa. Sie scheint mir in Zeiten des Klimawandels aktueller denn je.
Oder die Begeisterung des Dichters für die Ideale der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Dafür glühte er in seiner hymnischen Lyrik. Sie liest sich heute wie eine Mahnung – in Zeiten, da die liberale Demokratie mehr und mehr unter Druck gerät.
Ja, so viel steht fest: Hölderlins Bücher bleiben vorläufig im Wohnzimmer.