Wie eine Figur aus einem Pasolini-Film sei Reda plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht, erinnert sich Édouard Louis, damals, an Weihnachten 2012 in Paris, als er spätabends von einer Feier mit Freunden heimwärts marschierte.
Er, Édouard, sei von der Schönheit dieses nordafrikanischen Mannes überwältigt gewesen. Als dieser ihn drängte, ihn in seine Wohnung mitzunehmen, sei er halt schwach geworden.
Mechanismen der Gewalt erkennen
So beginnt in diesem autobiografischen Roman eigentlich alles wie eine vielversprechende Liebesgeschichte: Édouard und Reda erzählen einander aus ihrem Leben, lachen viel und haben einvernehmlichen Sex. Dann kippt die Stimmung plötzlich.
Reda – der sich wohl irgendwie ertappt fühlt – flippt aus: Er versucht seinen Gastgeber mit einem Halstuch zu erwürgen und vergewaltigt ihn. Dann verschwindet er so überraschend und lautlos im Dunkeln, wie er ein paar Stunden zuvor aufgetaucht ist.
Innert Sekunden gehen Zärtlichkeit und Vertrauen unvermittelt in Gewalt und Schrecken über. Wie kann dies geschehen? Was ist der Auslöser?
Diese Fragen haben Édouard Louis nicht mehr losgelassen. Ihm ist klar geworden: Nur wer die Mechanismen der Gewalt versteht, kann sie auflösen oder verhindern.
Ein mehrfacher Schmerz
Von seinen besten Freunden gedrängt, erstattet Édouard Louis Anzeige – und erlebt erneut einen Alptraum. Ob auf dem Polizeiposten, im Spital oder vor dem Richter: Überall muss er vom Geschehen berichten.
«So wird verhindert, dass das Opfer seinem Trauma je entrinnen kann», betont der Franzose: «Es erlebt den Gewaltakt zweimal – einmal körperlich und einmal durch die Sprache.»
«L’histoire de la violance» – wie der Roman im Original heisst – erzählt nicht nur von einem brutalen Übergriff und dessen Folgen. Er geht noch einen Schritt weiter. Er zeigt, wie dem Opfer die Kontrolle über seine Gewalterfahrung abhanden kommt.
Jede Überlieferung birgt die Gefahr von Missverständnissen. Dies wird Édouard Louis nicht nur im Umgang mit den Behörden bewusst, sondern auch im Kontakt mit seiner Schwester. Er zieht sie ins Vertrauen und bekommt dann zufällig mit, wie sie ihrem Mann «seine» Geschichte völlig verdreht rapportiert. Auch so wird der Schmerz wieder aktiviert.
Realität und Fiktion
Édouard Louis beleuchtet in seinem Roman eingehend das Verhältnis von Realität und Fiktion: Wie authentisch werden unsere Geschichten weitergegeben? Wie nahe an den Fakten bleiben wir selber, wenn wir eine solche Katastrophe erlebt haben?
Geschickt macht er die verschiedenen Stimmen im Buch transparent – und beweist ein grosses Mass an Selbstreflexion.
Für ihn bedeutet die Literatur, sagt Édouard Louis, «vielleicht noch die letzte Festung – une sorte de résistance – wo man Widersprüchen auf den Grund gehen kann.» Deshalb schreibe er.