Kein anderer DJ hat der globalen Partykultur so viele Impulse verliehen wie er: David Mancuso. Mancuso spielte ab 1970 den Sound, der später zu Disco werden sollte. Ein Gespräch mit dem Londoner Kulturwissenschaftler und Disco-Experten Tim Lawrence.
SRF: Vor 50 Jahren, am Valentinstag 1970, lud David Mancuso in New York zu seiner ersten «Love Saves the Day»-Party. Was spielte sich da ab?
Tim Lawrence: Es war radikal anders, wie David Mancuso Platten auflegte. Bis dahin waren Discjockeys dafür angestellt, die Party immer wieder runterzufahren. Damit die Tänzer dann zur Bar strömten, um sich Drinks zu besorgen.
Bei Mancuso gab es keinen Alkohol. Seine Gäste tanzten nonstop – 12, 15, manchmal 18 Stunden lang.
Wie hielt er sein Publikum so lange bei der Stange?
Mancuso erzählte Geschichten über Platten: assoziativ über die Songtexte, oder weil es energetisch passte. Er trat in einen musikalischen Dialog mit seinem Publikum, spürte und spielte, was in der Luft lag.
Revolutionär war, wie Menschen unterschiedlicher sexueller Präferenzen und Ethnien zusammen tanzten. Man durfte frei sein.
Zentral war für Mancuso der Sound an sich: Dafür liess er eine Hi-End-Anlage bauen, feilte ständig am perfekten Klangerlebnis. Aber als DJ hätte sich Mancuso trotzdem nicht bezeichnet.
Warum nicht?
Weil er sich in erster Linie als Gastgeber verstand. Die Partys fanden in einem leer stehenden Lagergebäude statt, wo Mancuso auch wohnte. Dieser Ort war als «Loft» bekannt.
Für Mancuso ging es immer darum, unter Freunden in einer total befreiten Atmosphäre zu feiern und dann zu schauen, wohin einen diese Erfahrung führen kann.
David Mancuso war Gast bei Timothy Learys LSD-Sessions. Hat sich an diesen Partys die Gegenkultur der 1960er-Jahre entladen?
Auf dieser Tanzfläche bündelten sich alle liberalen Energien der Zeit: Bewusstseinserweiternde Drogen, Bürgerrechte, Anti-Kriegs-Bewegung, Schwulenbefreiung, Frauenrechte.
David Mancusos «Loft» war hier wegweisend. An keinem anderen Ort in New York wurde die Stadt ums Jahr 1970 so sehr zum Schmelztiegel.
Revolutionär war, wie Menschen unterschiedlicher sexueller Präferenzen und Ethnien zusammen tanzten. Man durfte frei sein. Und sich in einem geschützten Rahmen ausleben.
Von Freiräumen und «safe spaces» ist heute nicht nur in der Partykultur die Rede.
David Mancusos «Loft» war hier wegweisend. An keinem anderen Ort in New York wurde die Stadt ums Jahr 1970 so sehr zum Schmelztiegel.
War das bereits «Disco», was David Mancuso 1970 auflegte?
Es war Soul, Funk, R&B, Afro, Rock und frühe Elektronik. Die Musik, die damals in Diskotheken lief. Unter den Händen von Pionieren wie David Mancuso vermischten sich diese Stile und wurden zu «Disco»: als Amalgam all dieser Einflüsse. Disco wurde dann ja stark kommerzialisiert, irgendwann sprang die Musikindustrie auf den Zug auf.
Manch eine junge Veranstalterin erinnert sich heute wieder an die Visionen von David Mancuso: Sich in der Musik komplett gehen zu lassen, frei sein zu dürfen.
Heute denken bei Disco vielen Menschen an einen Club wie Studio 54.
Das Studio 54 war ein Ort, wo vor allem weisse, reiche und prominente Menschen tanzten. Da ging es viel weniger um ein vielfältiges Miteinander. Die Party war als soziale Hierarchie angelegt.
David Mancuso ist 2016 gestorben. Was bleibt?
Die Partykultur ist ein Multimillionengeschäft geworden und hat sich an vielen Orten weit entfernt von dem, was David Mancuso im Sinn hatte.
Andererseits ist es so: Manch eine junge Veranstalterin erinnert sich heute wieder an die Visionen von David Mancuso: Sich in der Musik komplett gehen zu lassen, frei sein zu dürfen. In Zeiten der wachsenden gesellschaftlichen Spaltung ist das geradezu essenziell.
Das Gespräch führte Bjørn Schaeffner.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 12.02.2020, 9:03 Uhr