Künstlerische Sinnlichkeit ist Viviane Chassots Ding: Wo immer die 1979 in Zürich geborene Star-Akkordeonistin auftritt, ergreift sie das Publikum. Ob sie klassische Meister interpretiert, Jazz oder abgefahren Modernes – ihr virtuoses Spiel trifft mitten ins Herz.
Seit sie 12 Jahre alt ist, spielt die mehrfach preisgekrönte Musikerin Akkordeon. Ihr Instrument nennt sie «die Wunderkiste». «Ich wundere mich noch immer über neue Klänge, wenn ich Werke aufs Akkordeon übertrage, die für andere Instrumente geschrieben wurden», erklärt sie.
Es reizt sie, neue Klangwelten zu entdecken. Etwa, wenn Chassot Bilder von Paul Klee vertont oder gemeinsam mit Literaturschaffenden auftritt und musikalisch auf deren Texte reagiert.
Derartiges inspiriere sie, «schöpferisch zu sein und neue Klangwelten zu erfinden», sagt Chassot. So kam es, dass sie mit dem Schweizer Lyriker Andreas Neeser für die «Passage» auf SRF 2 Kultur zusammenspannte.
Spurensuche im «kehligen Keller»
In seinem aktuellen Gedichtband «Nachts wird mir wetter» erkundet der 1964 geborene Aargauer Andreas Neeser Seelenzustände. Kindheitserinnerungen verschmelzen mit Naturbeobachtungen. Zärtlich beschwört der Autor die Liebe zur Natur und erzählt von der Sehnsucht, zu «verholzen» – eins zu werden mit der Natur.
In mehreren Texten Neesers geht es um die Suche nach sich selbst, die Sehnsucht, sich «zweifelsfrei glauben» zu können, aber auch um die Einsicht, dass dies wohl ein Wunschtraum bleibt – und man sich zuletzt wohl stets als «Gerücht» empfindet.
Auch erforscht Andreas Neeser sein enges Verhältnis zur Mundart. Verschiedentlich blitzt in seinem in Hochsprache geschriebenen Band der Dialekt auf: Er ist sein «kehliger Keller», der sprachliche Schatz aus der Kindheit.
Andreas Neesers Lyrik ist unterschiedlich verdichtet: Da gibt es Texte, die an Prosa erinnern, daneben gibt es klassische Formen bis hin zu komprimierten Dreizeilern ohne Anfang und Ende. Da heisst es etwa: «wenn eines Tages / die Masken fielen / und nichts wäre anders». Derartiges irritiert. Philosophisch Tiefgründiges klingt an.
Leerstellen und Freiräume
Vieles in Andreas Neesers Lyrik bleibt ungesagt. Dies gibt Viviane Chassot die Möglichkeit, musikalisch in gedankliche Freiräume vorzudringen. Die Herausforderung sei es, «die Essenz dieser Lyrik zu erfassen und sie in Musik zu übertragen». Und gleichzeitig dem «Text den Raum zu lassen, den er braucht».
So lässt Viviane Chassot im gemeinsamen Auftritt in der «Passage» zum Beispiel eine kurze Phrase aggressiv-dissonanter Harmonien erklingen. Daraufhin trägt Andreas Neeser ein Gedicht vor, in dem es bei «Chillfaktor zehn» um die erkalteten Gefühle von zwei Menschen geht, die sich einst liebten.
Die sanfte Symbiose
Wenn in den Versen Schwärme von Mücken in «einer flirrenden Fülle» über dem See tanzen, lässt die Musikerin mit ihrem Akkordeon eine der «Gnossiennes» des Franzosen Erik Satie erklingen. Diese versieht sie mit einem feinen Vibrato, das die bewegte Natur klanglich aufnimmt.
In seiner Lyrik reduziert Andreas Neeser die Schilderung auf das unbedingt Notwendige. Viviane Chassot erweitert es mit ihrer Musik behutsam. Seine Texte würden dadurch nicht weniger als «ein anderes Leben» erhalten, sagt Andreas Neeser.
Tatsächlich: Das Miteinander der beiden Künste löst neue Gefühle und Assoziationen aus – und stösst in ungeahnte Welten vor, die verzaubern.