Ja, das Festspielhaus ist beeindruckend. Und die musikhistorische Bedeutung Wagners ist mir so bewusst, wie die erfreuliche Leistung der Musikerinnen und Musiker an diesem Abend. Das Befremden kam aber auch gewissermassen auf Bestellung – vor allem durch die pseudoreligiöse Überhöhung von Wagner und seiner Festspiele.
Wir Medien hatten immer schon unseren Anteil daran, diese Spielstätte zur Pilger- und Weihestätte zu stilisieren. Auch dieses Jahr, wo die Festspiele nach Corona-Pause unter strengen Hygienevorschriften wieder stattfinden, haben wir den Mythos aufgeladen:Mit Superlativen in den Vorberichten und wiederholtem Fokus auf den prominenten Besuch, als sei er der Beweis für die Relevanz der Festspiele.
Der nüchterne Blick auf die Festspiele
Sind die Werte, die Wagners Musik enthält, wirklich so universell und zeitlos wie das zur Festspielzeit Common Sense zu sein scheint? Wie wäre es, generell etwas nüchterner auf ihn zu blicken? Sicher nicht leicht – denn Nüchternheit und Wagner sind wie Feuer und Wasser. Und Geniekult macht schliesslich auch Spass.
Dennoch lohnt sich eine Relativierungsübung, die der Komponist und Autor Sandeep Bhagwati die «Provinzialisierung der Musik» nennt: er empfiehlt, dass wir die Liebe zu unserer kulturellen Heimat nie für mehr als eine provinzielle Regung halten sollten und die westliche klassische Musik als eine Musiktradition von vielen erachten sollten.
Überlegenheitsgefühle abwerfen – das inspiriert mich: Wie wäre es, eine Wagneroper nur als eine Oper von vielen zu sehen? Und die Bayreuther Festspiele nicht als die Crème de la Crème der Hochkultur, sondern als eine Subkultur von vielen, als schlichtweg beliebte Marke mit einer hochexklusiven Community?
Wenig szenischer Drive
Bei der gestrigen Premiere von «Der fliegende Holländer» bahnte sich die Musik in ihrer Grossartigkeit durchaus ihren Weg zu mir, in Form von Ohrwürmern segeln die Seemänner noch immer durch meinen Kopf. Dass Wagners Werk grösser ist als sein bisweilen kleinherziger antisemitischer Geist, kann ich als Vorteil für den oder die, die seine Musik lieben, durchaus akzeptieren.
Regisseur Dmitri Tcherniakov hat Wagners «Fliegenden Holländer» als Psychodrama angelegt. Der Protagonist bekam ein Kindheitstrauma hinzugedichtet, und anders als im Original überlebt Senta, die als rebellische Figur im Zentrum des Abends steht.
Die Umsetzung dieser interessanten Neudeutung konnte aber szenisch keinen Drive entfalten. Lag es also an der Inszenierung, dass bei mir der vielbeschworene Rausch ausblieb? Oder fehlen mir einfach die Wagner-Antennen?
Viel Polizei und Corona-Schatten
Mir ist noch kein Opernpublikum begegnet, das am Ende der Vorstellung derart leidenschaftlich applaudiert, jubelt, aufsteht, mit den Füssen auf dem Holzboden trampelt und „Buh“ bzw. „Bravo“ ruft. Vor dem Festspielhaus allerdings lag wenig feierliche Stimmung in der Luft: viel Polizei, eine gewisse Ruppigkeit im Umgang miteinander, und eine in sich gekehrte Ernsthaftigkeit des Publikums.
Irgendwie hoffe ich, dass diese Stimmung dem langen Schatten von Corona Tribut zollt, der in diesem Jahr über den Festspielen liegt und das dies nicht der generelle Geist ist, der hier herrscht. Denn dann fiele es mir wirklich schwer, die Überhöhung nachzuvollziehen.