Eine elegante Erscheinung, ein schön geschnittenes Gesicht, dunkles Haar, gross gewachsen, lange Arme: So kennt man Carlos Kleiber von den Mitschnitten seiner Proben aus den 70er-Jahren. Er steht vor dem Südfunk-Sinfonieorchester und versucht mit Körpereinsatz, Mimik, Rhetorik, Witz, Freundlichkeit und Humor den Musikern, die da steif im «Dienst» sitzen, klar zumachen, was er will. Er will alles. ALLES. Er will die Musik ganz freilegen, das Innerste nach Aussen stülpen. Keine Phrase darf leer sein. Keine Gefühlsregung, die sich zwischen den Notenlinien versteckt, unentdeckt bleiben. Das ist sein Markenzeichen. Sein Stempel.
Er konnte es (sich selber) nie Recht machen
Carlos Kleibers Vater, Erich Kleiber, war auch Dirigent. Er wollte nicht, dass sein Sohn den gleichen Beruf ergreift. Er war dominant. Er war ein strenger Kapellmeister. Carlos widersetze sich seinem Vater und trat das Martyrium an, dem er nie entkommen sollte: hochbegabt, hochsensibel, extrem charismatisch, gesegnet mit grosser Phantasie, hypermusikalisch. So ausgestattet begann er zu dirigieren, besser als sein Vater, viel besser wahrscheinlich.
Er glaubte aber selber sein Leben lang, dass er nie an ihn herankommen könne, an Erich, den Vater. Sein Repertoire blieb schmal – weil er nur das dirigierte, wovon er eine Partitur mit Notizen seines Vaters besass: Einige Beethoven- und Brahms-Sinfonien, Richard Strauss‘ Rosenkavalier, etwas Wagner, etwas Bizet – und seine geliebte Fledermaus.
Mit dem Gesicht dirigiert
Verrückt ist das! Da liegt ihm die Welt zu Füssen, die Orchester reissen sich um ihn, er kann horrende Gagen verlangen – und zieht sich mehr und mehr zurück. Dirigenten können, im Gegensatz zu Instrumentalisten, bis ins hohe Alter arbeiten, und die meisten tun das auch. Claudio Abbado zum Beispiel hat bis kurz vor seinem Tod Konzerte gegeben. Kleiber nicht. Obwohl seine Karriere glänzend lief.
Rätselhaft ist das vor allem deswegen, weil Carlos Kleiber ja selber brannte für die Musik. Man kann‘s nur erraten, er muss Qualen gelitten haben, nicht öfter vor einem Orchester zu stehen. Man muss sich nur mal seine Mimik ansehen, wenn er Beethoven dirigiert: Ein Blick auf sein Gesicht, und ein Orchestermusiker konnte gar nicht anders, als zu versuchen, diese Regung, die sich da drauf spiegelte, möglichst eins zu eins auf dem Instrument umzusetzen. Aber – Kleiber hat gelitten vor jedem Konzert, weil er nie das herausholte, was er wirklich wollte. Weil er am Übervater schier zerbrach. Weil er alles vom Orchester wollte – aber nie ganz alles bekam.
Hohe Gagen hielten lange vor
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So hatten die extrem hohen Gagen, die Carlos Kleiber mit der Zeit für seine raren Dirigate verlangte, einzig und allein den Zweck, wieder möglichst lang unbehelligt leben zu können, sich in sein Haus im verschlafenen slowenischen Nest Konjsiča zurück zu ziehen. Dort führte er mit seiner Frau, einer ehemaligen Tänzerin, ein völlig unglamouröses, fast biederes Leben und wurde mehr und mehr zum wunderlichen Alten, der den Schatten des Vaters vielleicht erst hier, in der Einsamkeit, loswerden konnte.
Ab Mitte der 90er-Jahre dirigierte Carlos Kleiber praktisch gar nicht mehr. Er starb am 13. Juli 2004 völlig überraschend, kurz nach dem Tod seiner Frau. 2011 wurde er vom renommierten BBC Magazine zum besten Dirigenten aller Zeiten gekürt – direkt gefolgt von Leonard Bernstein und Claudio Abbado.