Es gibt ein Orchester, das in der kommenden Konzertsaison mehrheitlich von Frauen dirigiert wird: das ORF-Radio-Symphonieorchester Wien. Dessen Saisonprogramm brilliert 2019/2020 mit einem Dirigentinnen-Anteil von mehr als 60 Prozent. Das ist ein historischer Rekord.
Beim Helsinki Philharmonic Orchestra ist der Dirigentinnen-Anteil zwar nicht ganz so hoch, aber mit fast 40 Prozent immer noch deutlich höher als bei schweizerischen oder deutschen Orchestern.
Was auffällt: Die genannten Orchester haben Chefdirigentinnen. In Wien steht Marin Alsop am Chefpult und in Helsinki Susanna Mälkki. Offenbar kann sich dies auf die Ausgewogenheit der Geschlechter im Programm auswirken.
Keine Chefdirigentinnen in der Schweiz
In der Schweiz hat keines der grossen Orchester eine Chefdirigentin. Zwar wird Kristiina Poska in Basel interimistisch als Musikdirektorin am Theater Basel engagiert, jedoch vorerst nur für ein Jahr.
Auch sonst ist man in der Schweiz noch weit entfernt von den Zahlen aus Wien und Helsinki. Gesamtschweizerisch werden in der kommenden Saison nur knapp zehn Prozent der Sinfoniekonzerte von Frauen dirigiert, im Bereich Oper sind es weniger.
Immerhin ist dies im Bereich Sinfoniekonzerte eine deutliche Steigerung seit 2014, damals waren es weniger als zwei Prozent. Spitzenreiter ist 2019/2020 das Tonhalle-Orchester Zürich mit drei Gastdirigentinnen.
Nordische Länder haben die Nase vorn
Dass hierzulande weniger Dirigentinnen auftreten sei typisch, sagt der Musikagent Gaetan Le Divelec von der renommierten Agentur Askonas Holt in London. Erfahrungsgemäss sei es etwa in der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich schwieriger, Dirigentinnen zu vermitteln.
Im Gegensatz zu den Niederlanden, dem angelsächsischen Raum und insbesondere den nordischen Ländern. Letztere seien führend im Bestreben, ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis am Dirigierpult zu erreichen.
Systemisches Versagen
Le Divelec erkennt als Ursache für die Untervertretung von Dirigentinnen ein systemisches Versagen in der Klassikwelt. Die Diskriminierung habe historisch gewirkt und viele weibliche Talente behindert oder gar davon abgehalten, Karriere zu machen.
Um dies zu ändern, hat er die Mechanismen der Gläsernen Decke und die Rolle der Agenturen analysiert. Schliesslich ergriff man Massnahmen, um diese diskriminierenden Prozesse zu durchbrechen.
Abläufe ändern
So sucht Askonas Holt heute expliziter nach Potenzial bei weiblichen Dirigierenden. Man ist auch kulanter, wenn es ums Alter einer Dirigentin geht.
Im Wissen, dass bei vielen Dirigentinnen nicht mangelndes Potential die Ursache für eine etwaige langsamere Entwicklung einer Karriere ist, sondern die systemischen Hindernisse, die sie als Frau in diesem männerdominierten Beruf erst überwinden mussten.
Weibliche Meilensteine
Auch im Bereich der Tonträger geht es für Dirigentinnen immer noch langsam vorwärts. Dennoch wurden in den letzten Jahren erfreuliche Meilensteine gesetzt. Die erste Gesamtaufnahme der Sinfonien von Anton Bruckner, dirigiert von einer Frau, erschien 2016 in Hamburg: Dirigiert hat Simone Young.
Die Deutsche Grammophon nahm 2019 erstmals eine Dirigentin langfristig und exklusiv unter Vertrag: Mirga Gražinytė-Tyla ist die erste und damit einzige Dirigentin in der über 120-jährigen Geschichte des Klassik-Traditionslabels. Nun sollten aber baldmöglichst weitere Grossprojekte im Bereich der Aufnahmen folgen.