Etwa 1,5 Millionen Menschen in der Schweiz leiden an chronischen Schmerzen. Im Alltag bekommt man davon kaum etwas mit. Zum einen sieht man den Leuten oft nicht an, wie schwer sie betroffen sind. Zum anderen ist das Thema mehrheitlich ein Tabu. «Im sozialen Umfeld oder am Arbeitsplatz neigen die Betroffenen dazu, das Problem zu verschweigen», sagt die Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich.
Wer sich artikuliere, riskiere in sozialer und ökonomischer Sicht gravierende Folgen. Zudem sei es nicht einfach, überhaupt eine Diagnose zu bekommen, so Biller-Andorno: «Chronische Schmerzen sind medizinisch kaum verifizierbar. Das wird vor allem dann zum Problem, wenn die Betroffenen nicht mehr arbeitsfähig sind.» Denn ohne einen medizinischen Befund um eine IV-Rente zu kämpfen, sei schwierig.
Transdisziplinäres Projekt
Der Künstler Johannes Willi kennt selbst nur akute Schmerzen. Sie verschwinden meist von allein. Als chronisch gelten Schmerzen erst, wenn sie länger als drei Monate andauern und ihre Warnfunktion verloren haben. Eine Ursache ist oft nicht mehr feststellbar.
Um dem Thema auf den Grund zu gehen, verbrachte Willi sechs Monate am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich (IBME) und im Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil. Ermöglicht wurde dies vom «artist-in-labs-program» der Zürcher Hochschule der Künste, das eine transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft fördert.
Der Künstler tauschte sich mit Forschenden, Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten aus und begleitete Gruppentherapiestunden. Ihm fiel auf, dass viele Betroffene Mühe haben, ihre Beschwerden zu beschreiben. Ihre Ausdrucksweise sei oft medizinspezifisch und unpersönlich: «Die Patientinnen und Patienten sprechen oft die gleiche Sprache wie das Fachpersonal und werfen mit lateinischen Fachbegriffen um sich.»
Schmerz lustvoll ausdrücken
Bei dieser Sprachlosigkeit hat Willi angesetzt, eigenwillige Instrumente gebaut und das «Chronic Pain Orchestra» gegründet, um einen persönlichen und lustvollen Ausdruck für den Schmerz zu entwickeln. Die Instrumente des «CPO» sind golden schimmernde und menschengrosse Skulpturen aus Messingblechen. Sie erinnern an Körperteile wie Hände oder Füsse. Wie gewaltige Gongs hängen sie von der Decke und werden mit Schlägeln, Besen oder den Händen angeschlagen, gestreichelt, gekratzt.
Zu den Mitgliedern des Orchesters gehören Profimusiker und Schmerzpatientinnen und -patienten. Eine von ihnen lehnte sich in der Probe an die Messingskulpturen und schlug sie mit weichen Schlegeln an: «Diese tiefen, dumpfen Töne tun mir gut», das sei «wie eine Massage.»
Die Reaktionen der Beteiligten sind jedoch unterschiedlich: «Ich habe eigentlich mehr Schmerzen als vor der Probe.» Oder: «So wie ich jetzt gespielt habe, gehe ich gerne nach Hause und entlaste», erzählte ein anderer.
Kein Therapie-Ersatz
Eine Therapieform, die chronische Schmerzen heilt, gibt es bislang in vielen Fällen nicht. Darum schliesst die klassische Schmerztherapie viele verschiedene Aspekte mit ein, unter anderem auch Musiktherapie. Willis Ziel ist jedoch nicht, dass es den Betroffenen nach dem Musikmachen besser geht. Einen therapeutischen Ansatz kann und will er als Künstler nicht verfolgen.
Die Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno glaubt, dass die Beteiligung an dem Projekt trotzdem eine wertvolle Erfahrung für Patientinnen und Patienten sein kann: «Chronischer Schmerz isoliert tendenziell. Hier setzen sie sich nicht nur zusammen und tauschen sich aus, sie gestalten auch gemeinsam etwas Hörbares.»
Biller-Andorno betont zudem die gesellschaftliche Dimension: «Die Performance des CPO ist ein Aufruf an die Medizin-, Gesundheits- und Sozialpolitik, sich zu fragen, wie wir diejenigen besser versorgen könnten, die in unserem System vergessen gehen.»