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Eine Hand liegt auf einem Tamburin. Im Hintergrund lehnt ein Mann an der Wand und spielt Gitarre.
Legende: Syrische Flüchtlinge musizieren in einem türkischen Flüchtlingszentrum. Keystone

Musik Das Schicksal der Flüchtlinge als Musik vertont

Vom klassischen Charity-Song bis zu in Musik verwandelten Flüchtlingsdaten: Musikerinnen und Soundkünstler bewegt das Flüchtlingsthema. Dafür finden sie ganz unterschiedliche Zugänge. Aber wo bleiben die Stimmen der Flüchtlinge selbst?

Seit letzter Woche hat Stille einen Preis: 60 Sekunden kosten 1,50 Schweizer Franken. Wie ein normales Musikstück kann man sie auf iTunes und Amazon kaufen. Die Schweigeminute ist eine ungewöhnliche Spendenaktion des Wiener Künstlers Raoul Haspel – mit dem Erlös will er den Flüchtlingen im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen südlich von Wien helfen.

Der stille Track hat Symbolwert: Er ist ein Aufruf, kurz innezuhalten und ein Protest «gegen das erschütternde Versagen in der österreichische Flüchtlings-Politik», wie Haspel auf seiner Facebook-Seite schreibt. Seine Aktion funktioniert: Schon vor der Veröffentlichung am 28. August 2015 haben so viele Menschen diese Schweigeminute gekauft, dass sie seit Tagen auf Platz eins der österreichischen iTunes-Charts steht.

Philanthropie und die Kunst zu werben

Kaum eine Kunstform eignet sich so gut wie Musik, um eine Kultur des Mitgefühls zu zelebrieren. So sind in Krisenzeiten Charity-Songs nicht weit: Musiker nehmen ein Lied auf, stellen es gratis zur Verfügung und hoffen auf die Spendenbereitschaft ihrer Fans.

Der deutsche Soul-Sänger Flo Mega wählt mit «Lamm Vindaloo» einen ähnlichen Weg wie der österreichische Rapper Willi Ban mit «99 Probleme, aber ein Flüchtling ist keines». Beide Songs sind ohne Pathos, sie erzählen keine Heldengeschichten, sondern sind humorvolle, handgemachte Willkommensgrüsse, gepaart mit Kritik an Rassismus und Überfremdungsängsten.

Anders der neapolitanische Rapper Clementino: In «99 Stelle» singt er in der Ich-Form aus der Perspektive eines Flüchtlings «Wenn ich eines Tages zurückkehre, werde ich unter den Sternen singen» und bewirbt mit diesem Lied sein neues Album.

Ein Algorithmus lässt Daten und Distanzen erklingen

Der New Yorker Programmierer und Künstler Brian Foo sammelt keine Spenden, sondern will mit seinem Soundkunst-Track «Distances from Home» zum Nachdenken anregen. Dazu macht er die nackten Zahlen über die Flüchtlingsbewegungen der letzten 40 Jahre sinnlich erfahrbar.

Er hat einen Algorithmus programmiert, welcher Flüchtlingsdaten der vereinten Nationen sonifiziert, also in Musik umwandelt. Je mehr Menschen auf der Flucht sind, desto mehr Sounds sind zu hören. Auch die Länge der Töne und die Tonhöhe haben eine Bedeutung. Sie vertonen die Distanz, welche die Flüchtlinge in den einzelnen Jahren zurückgelegt haben.

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Flüchtlingen eine Stimme geben

Protestlieder, Musik für Flüchtlinge, eine Schweigeminute, vertonte Zahlenreihen – diese Aktionen kommen von Musikerinnen und Künstlern aus Westeuropa und den USA. Wenig sichtbar hingegen ist die Musik von Flüchtlingen selbst.

Die Kampagne «aLive – music by refugees» der europäischen Rundfunk Union und dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR will das ändern. Flüchtlingshelferinnen und Journalisten haben in den Camps und Städten verschiedener Länder Flüchtlinge aus Afghanistan, aus Mali, aus Somalia oder aus der Ukraine zum singen aufgefordert. Sie haben die Lieder gefilmt – teilweise nur mit Handykameras und ohne professionelle Mikrofone – und auf die Kampagnen-Homepage hochgeladen.

«Ich kann euch nicht erreichen»

Da ist zum Beispiel Wissam, der aus Syrien über das Mittelmeer nach Italien gekommen ist. Etwas verloren steht er am Mailänder Hauptbahnhof und singt aus voller Kehle ein arabisches Volkslied.

«Ich habe eure Briefe nicht erhalten, ich kann euch nicht erreichen. Keine Schuld, keine Schuld», heisst es darin. Er richtet das Lied an seine Familie in Syrien. Immer mehr Passanten bleiben stehen. Er fordert sie zum Tanzen auf. Dieses musikalische Videoporträt ist in seiner Einfachheit bewegend.

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