Mit heftigen und anhaltenden Schlagzeugwirbeln und fetzenhaften, romantisierenden Orchesterklängen schockierte 1976 ein junger Komponist das Publikum bei den Donaueschinger Musiktagen. Er widersprach allem, was damals der Neuen Musik heilig war: «Sub-Kontur» war scheinbar undifferenziert, laut, ja brutal. Wie aus einem Untergrund brachen revoltierende archaische Kräfte hervor.
Wolfgang Rihm hiess der junge Mann, der diese musikalischen Urgewalten evozierte. Er sorgte für Aufhorchen und Ablehnung. Provozierte mit einer kaum zu bremsenden Beethovenschen Schaffenskraft. Und mit einem einzigartigen, ungebändigten Ausdruckswillen. Das überzeugte sehr bald. So wurde Rihm eine der Leitfiguren seiner Generation. Mit seiner Kammeroper «Jakob Lenz» gelang ihm ausserdem ein Bühnenerfolg, der noch heute regelmässig gespielt wird.
Imposante Erscheinung
Rihm, 1952 in Karlsruhe geboren, überragte seine Altersgenossen nicht nur mit seiner Musik. Er war ein prägender Lehrer und galt auch schnell als einflussreiche Persönlichkeit im internationalen Musikleben. Am Lucerne Festival etwa übernahm er nach dem Tod von Pierre Boulez 2016 die Leitung der Lucerne Festival Academy. Jener Schule des Komponierens und Spielens zeitgenössischer Musik. Eine Werkstatt, in der viele von Rihms ungeheuer anregender Art des Debattierens profitieren konnten.
Wolfgang Rihm war auch körperlich eine imposante Figur, mit seinem grossen Kopf und seinen stets wachen Augen. Es war ein Vergnügen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Da dachte einer stets weiter, hungrig nach dem Verfertigen der Gedanken im Reden. Ein Denken jenseits der Dogmen.
Von Dogmen wollte sich Rihm nicht einengen lassen. Früh plädierte er für ein «inklusives Komponieren», das sich nicht auf Methoden beschränkte, sondern ganz Unterschiedliches integrierte. So finden sich in seiner Musik Spuren von Beethoven, Schubert, Brahms oder auch Thelonious Monk. Wolfgang Rihm wollte seiner Musik keine Grenzen setzen: Er hat sie auf fantasiegeladene Weise entgrenzt.
Überraschung garantiert
Vorgeworfen wurde ihm häufig, dass er zu viel komponiere. Tatsächlich: Im Laufe von einem halben Jahrhundert hat er ein schier unüberblickbar weites Œuvre geschaffen, das so ziemlich alle Gattungen umfasst. Vom Klavierstückchen bis zur abendfüllenden Oper. Das Spielerische und eine geistreich zu nennende Schönheit waren in vielen seiner Stücke zu hören.
In Musik wie auch im Gespräch hat sich Rihm verbunden: mit der Welt und mit der Tradition des Geistes. Beide mit ihren ganzen Widersprüchlichkeiten. Und – ganz wichtig: immer zugewandt, stets freundlich. Rihm litt seit einigen Jahren an einer Krebserkrankung. Nun ist er am Samstag daran gestorben. Dieser Überfigur konnte – fast – nichts etwas anhaben.