Das Publikum im Münchner Stadttheater jubelt schon begeistert, bevor die Performance überhaupt begonnen hat. Dann werden im Bühnennebel langsam vier Gestalten sichtbar: Marija Aljochina, die für die gerade gestartete Europa-Tournee Russland heimlich verlassen hat. Diana Burkot, die schon seit dessen Anfängen im Kollektiv mitmischt. Neuzugang Olga Borisova, die Polizistin war, bevor sie sich Pussy Riot anschloss. Und Anton Ponomarew, der die Frauen am Saxofon begleitet.
Zwei Jahre Straflager für wenige Sekunden Protest
«Riot Days» – «Tage des Aufstands» lautet der Titel der Performance. Eine Mischung aus Konzert, Kundgebung und Theater. Ein ganz eigenes Genre, das die Gruppe bereits bei ihrem Auftritt im Februar 2012 auszeichnete.
Damals hielten vier Pussy-Riot-Aktivistinnen in neonfarbenen Kleidern, Strumpfhosen und Sturmhauben in Moskaus Christ-Erlöser-Kathedrale ein Punk-Gebet: «Heilige Mutter Gottes, jage Putin davon!», skandierten sie.
Dieser Auftritt machte Pussy Riot weltweit berühmt – und endete für Nadja Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Marija Aljochina mit einem Schauprozess: Für ein paar Sekunden Protest sollten sie zwei Jahre ins Straflager.
Anti-Kriegs-Tournee durch Europa
Trotzdem hat Pussy Riot immer weitergemacht. Gerade tourt die Gruppe mit einer Anti-Kriegs-Performance durch Europa. Aljochina machte ihr Ziel bereits vor dem Münchner Konzert an einer Pressekonferenz klar: «Diese Tour soll erstens zeigen, dass wir hinter der Ukraine stehen», erklärte sie. «Zweitens kämpfen wir gegen die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg.»
Zudem wolle Pussy Riot darauf aufmerksam machen, dass fast alle Kulturschaffenden und Intellektuellen, die Russland ausmachten, im Gefängnis sitzen. «Nur weil sie gegen Putin und den Krieg protestiert haben», so Aljochina.
Flucht in Lieferantenuniform
Auch sie selbst sollte mal wieder ins Gefängnis, diesmal für einen Pro-Nawalny-Post auf Instagram. Stattdessen schlich sie sich als Essenslieferantin verkleidet aus dem Hausarrest. Vorbei an den Polizisten, die sie seit Jahren bespitzeln, schaffte sie es über Belarus und Litauen bis nach Berlin. Dort fand am 12. Mai der Auftakt der «Anti-War-Tour» mit insgesamt 19 Stationen statt.
Künstlerische Statements gegen den Krieg seien wichtig, so Aljochina: «Kunst kann die Welt verändern. Sie kann ein anderes Bild zeichnen von dem, was gerade passiert, oder auch von dem, was in Zukunft passieren wird.» Darum hätten totalitäre und autoritäre Staaten Angst vor politischer Kunst.
«Europa finanziert diesen Krieg»
Aber, und das ist Aljochina wichtig: Kunst allein reicht nicht aus. Denn die Kunst kann zwar inspirieren. Doch wirklich etwas verändern, das müssen wir schon selbst. Es sei für sie unfassbar gewesen, dass westliche Politiker Putin nach der Krim-Annexion weiterhin die Hände schüttelten, als sei nichts passiert.
Auch jetzt unternehme Westeuropa viel zu wenig gegen Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine: «Wie könnt ihr diesen Leuten noch immer Geld geben?», fragt die Aktivistin.
Europa finanziere diesen Krieg, indem es Öl und Gas von Putin kaufe. Noch sei es nicht zu spät, das zu verstehen – noch nicht.
Sirenengeheul statt Gitarrenriffs
Plötzlich dröhnt Sirenengeheul aus den Lautsprechern. Sie sind das Intro zum Song «Ukraine, ich liebe dich» – das letzte Lied, das Pussy Riot an diesem Abend in München anstimmen. Es handelt vom Krieg, seinen Opfern und Putins Propaganda.
Der Song bleibt ebenso hängen wie die wiederholt auf der Leinwand hinter der grossen Bühne eingeblendete Mahnung: «Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft.» Ein Kampf, den die Aktivistinnen seit über zehn Jahren führen. Nicht nur für ihre, sondern auch für unsere Freiheit.