Es ist ein kalter Apriltag 1967 in Zürich, doch die Stimmung ist heiss. Eben sind ein paar Herren aus der Grafschaft Kent auf dem Flughagen gelandet. Mick Jagger und die Rolling Stones sind für das erste Schweizer Konzert in der Stadt.
Das Magazin «Bravo» schreibt von «der härtesten Band der Welt», ein Gemeinderat bezeichnet in der NZZ Stones-Konzerte als «verantwortungslose Verführung Jugendlicher zum totalen Blödsinn».
Mit einem Rekordaufgebot von 400 Mann steht die Polizei bereit, um die 13'000 Jugendlichen im Zaum zu halten. Nach 35 Minuten ist das Konzert vorbei. Doch die Zeit reicht, um das Publikum in Extase zu bringen. Nach der Show fliegen Stühle, die Polizei muss einschreiten.
Der Prototyp des Rockstars
Die Befürchtungen der Presse haben sich bewahrheitet: Nur Ärger mit den Rolling Stones. Der angebliche Anführer der aufgestachelten Meute: Mick Jagger.
Toni Vescoli, an jenem Tag Vorgruppe mit seiner Band Les Sauterelles, erinnert sich gut an das Chaos. Schon bei ihrem Auftritt seien die Fans komplett ausgeflippt. Die Stimmung sei derart wild gewesen, dass sie nicht einmal das Konzert der Stones miterleben durften. «Es war Kriegszustand. Nach dem ersten Lied der Stones mussten wir das Stadion verlassen.»
Jagger, der Rock-Rebell
Auch dank solcher Auftritte wurde aus Jagger der Prototyp des Rockstars», sagt SRF-Musikexpertin Gisela Feuz. «Wild, unberechenbar, sexy, gefährlich.»
Es war ein Bild, auf das sich das Marketing der Stones und die konservative Öffentlichkeit einigen konnte: Jagger der Revoluzzer, Jagger der Rockrebell.
Heute, 56 Jahre später: Hochachtung vor Sir Michael Philip Jagger. Jagger ist als Sänger und Songschreiber weltweit hochgeachtet: eine Legende. Die Songs, die er gemeinsam mit Keith Richards für die Stones geschrieben hat: Klassiker.
Ein ernsthafter Job als Performer
Den Spätherbst seiner Karriere geniesst Jagger auf den grössten Bühnen und Yachten dieser Welt. Stets dabei: Fruchtsäfte und Laufschuhe.
Er nehme seinen Job als Performer ernst, so Gisela Feuz. «19 Kilometer legt er bei einem Konzert zurück. Er trainiert fünf bis sechs Mal in der Woche.» Nur dank dieser Disziplin sei Jagger mit 80 noch bereit, mehrstündige energetische Liveshows zu spielen.
Vor seinen Auftritten warnt heute niemand mehr. In der Presse wird der achtfache Vater geachtet statt geächtet. Die angebliche Ikone der 68er-Bewegung ist im Establishment angekommen und Queen Elizabeth II hat ihn zum Ritter geschlagen.
Auch die Musikwelt hat sich weiterentwickelt – was früher als gefährliches «Urwaldgegurgel» (so der besagte Gemeinderat in der NZZ von 1967) bezeichnet wurde, ist heute konforme Popmusik. Die «tumultuösen Orgien» wurden zu den professionellsten Rockshows der Welt.
Nicht mehr die randalierende Jugend, sondern die kopfnickende Mittelschicht schaut sich die Megashows an. Dieser Wandel hat ausserhalb der Band stattgefunden, denn die Stones haben sich musikalisch kaum verändert.
Vom Revoluzzer zum Ritter
Es ist eine verrückte Reise, die Jagger hinter sich hat. Eine Reise, die ihn in den Rockolymp und in den Ritterstand gehoben hat. Wofür steht er nun? Revoluzzer oder Ritter? Gegenkultur oder Establishment?
Beides reflektiert ihn nicht wirklich: Obwohl Jagger stets als Sinnbild fürs Extreme gezeichnet wurde, befand er sich immer auf seinem eigenen Mittelweg.
Vermutlich wird man nur so ein 80-jähriger Ritter im Rockolymp.