«I bringe di doch no schnäu hei nach Langetau», hatte Friedrich Dürrenmatt 1960 dem Nicht-Autofahrer Heinz Holliger nach einer Hochzeitsfeier in Bern gesagt. Aber in Langenthal war dann der Tank leer. Sie klingelten einen schwerhörigen Töffli-Garagisten um 4 Uhr morgens aus dem Schlaf. Und mit der Spritzkanne tröpfelten sie Benzin in den leeren Tank.
Die klingende Literatur
Solche Anekdoten erzählt Holliger, wenn er durch sein Haus steigt, das von unten bis oben mit Büchern vollgestopft ist. Mit ihm zusammen wohnen hier Robert Walser und Luisa Famos, Nelly Sachs und Nikolaus Lenau, Ilse Aichinger und die ‘Friedriche’ Hölderlin, Glauser und Dürrenmatt.
Sie können sich bequem ausbreiten auf Schemeln und Sesseln, Tischen und Betten, auf dem Boden, den Treppenstufen und dem Flügel. All diese Schriftstellerinnen und Schriftsteller und noch viele mehr bilden Heinz Holligers künstlerischen Kosmos.
«Stockunmusikalisch»
Doch nicht alle Schriftsteller lassen sich in Musik umsetzen. «Bei Max Frisch höre ich gar nichts, keinen Klang, nichts, obwohl ich ihn gerne lese», sagt Heinz Holliger.
Dürrenmatts von Helvetismen durchzogene Sprache hingegen ruft bei Holliger sofort Klänge hervor. Obwohl Dürrenmatt von sich selbst immer gesagt habe, er sei «stockunmusikalisch», hätte Holliger gerne mit ihm zusammen etwas auf die Bühne gebracht.
Manche Texte schlagen wie ein Blitz ein. Da höre ich sofort Musik.
Zum Beispiel die Geschichte des unsteten aber genialen Langenthaler Apothekers Andreas Dennler (1755 – 1819). Der schrieb revolutionäre Bücher, sass fast immer im Gefängnis und entwickelte Utopien zu einer speziellen Ernährungslehre, die aus Tyrannen gute Menschen machen sollte.
Aber Dürrenmatt starb und es kam nicht mehr zu dieser Zusammenarbeit. «Das hätte eine ganz neue und andere Musik von mir gegeben», sagt Heinz Holliger.
Wie ein Blitz
Vor einem anderen Bücherregal erinnert sich Heinz Holliger an ein weiteres Projekt, das nie zustande kam. Zu «Mattos Puppentheater» von Friedrich Glauser hätte er gerne etwas komponiert. «Glauser hat eine Sprache wie geschliffener Kristall – unglaublich klar!», begeistert sich Holliger.
Zum Glück gibt es aber in seiner Bibliothek viele Bücher, die Holliger zu Musik verwandelt hat: «Ich suche mit meiner Musik wie eine zweite Sprache zur Literatur, eine Musik, die sich mit den Texten verwebt, sie widerspiegelt. Manche Texte schlagen wie ein Blitz ein, da höre ich sofort Musik.»
Auch Dialekt-Texte vertont Holliger immer wieder. Von berühmten Autoren wie Kurt Marti, aber auch von stilleren, wie die Dichterin Anna Maria Bacher, die im urtümlichen Walser-Dialekt klangfarbige Gedichte schreibt.
Humanitäres Engagement
Holligers Werke können durchaus auch kritisch und politisch sein. So wollte er die jugendlichen Sänger des berühmten Leipziger Thomanerchors mit einer Vertonung von Martin Luthers antisemitischen Texten konfrontieren.
Aber Holliger scheiterte: «Mich hat das plötzlich so angewidert, dass ich die Komposition nicht zu Ende schreiben konnte.» Diese Erfahrung führte Heinz Holliger zu dem Gedicht «hölle himmel» von Kurt Marti. Darin heisst es:
doch bleibt mir im ohr was ein kluger jude gemurmelt:
«es muss eine hölle geben – wo wäre sonst hitler?
es muss einen himmel geben – wo wären sonst die vergasten?»
Mit diesem Gedicht hat Holliger die Motette «hölle himmel» für gemischten Chor komponiert und in solchen Vertonungen zeigt sich sein humanitäres Engagement.
So lebt und arbeitet Heinz Holliger mit all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die ihn in seinem Haus umgeben. Sie begleiten ihn in seinem künstlerischen Schaffen. Mehr noch: ohne sie wäre sein Komponieren nicht denkbar.