Montagnachmittag im Flüchtlingscamp Vial auf der griechischen Insel Chios: Zwei Dutzend Kinder versammeln sich bei den Containern, in denen die Schule untergebracht ist. Am Vormittag lernen sie hier Lesen und Schreiben. Am Nachmittag wird musiziert: Zwei Profi-Musiker haben gespendete Geigen, Bratschen und Celli nach Chios transportiert. Sie bringen den Kindern bei, wie man gemeinsam im Orchester musiziert.
Die Kinder stammen aus Syrien, Afghanistan, Irak. Sie sind auf der Flucht aus ihren Heimatländern, haben unvorstellbares erlebt, hausen nun mit ihren Familien in Zelten. Sie müssen Monate, manchmal Jahre warten, bis ihre Asylanträge bearbeitet sind. Doch wenn sie musizieren, scheint all das vergessen. Dann zählt nur die Musik – und das Miteinander.
Musizieren als Gemeinschaftserlebnis
Die Bratschistin Leila Weber spielt eine Melodie – und die Kinder begleiten sie dabei. Sie spielen im Rhythmus auf den leeren Saiten ihrer Instrumente – und kreieren damit das harmonische Grundgerüst eines grossen musikalischen Werks: einer Sinfonie von Gustav Mahler.
«Die Menschen leben hier an einem Ort, den sie nicht kennen. Sie haben keine Struktur und sprechen keine gemeinsame Sprache», sagt Andreas Knapp. Gemeinsam mit Leila Weber hat er das Hilfsprojekt «Hangarmusik» gegründet. «Die Musik hilft uns, eine neue Form des Miteinanders zu entwickeln», sagt er.
Musikunterricht funktioniert auch ohne Sprache
Das Musizieren funktioniere auch ohne Worte, sagt Leila Weber: «Wir zeigen den Kindern, wie man das Instrument hält, wo man anfängt zu spielen, wie der Rhythmus des jeweiligen Stücks funktioniert. Das ist eine Sache, die wirklich im Tun passiert.» Ein weiteres Werk, das Weber und Knapp mit den Kindern einüben, ist Beethovens «Ode an die Freude» aus der 9. Sinfonie – die Europahymne.
Dass sie nur westeuropäische Musik spielen, hat mehrere Gründe. «Weil wir hier verschiedene Ethnien haben und keine Ethnie bevorzugen wollen», sagt Andreas Knapp. Und: «Wir können den Kindern nicht ihre eigene Musik beibringen – nur unsere.»
Im Orchester ist jeder Einzelne wichtig
Die Musik mache die Kinder damit auch mit ihrem neuen Lebensraum vertraut, sagt Andreas Knapp: «Wenn diese Kinder später einmal in die Tonhalle nach Zürich kommen, dann ist ihnen die Musik, die dort gespielt wird, bereits vertraut – nicht nur vom Hören, sondern vom eigenen Spielen.»
Das Musizieren im Orchester bringt noch weitere Vorteile: «Auch ein Malkurs ist wertvoll», sagt Leila Weber, «aber da beschäftigt sich jeder mit sich selbst. Bei der Musik tun wir alle etwas gemeinsam. Denn es braucht viele Menschen, um diese Orchestermusik überhaupt spielen zu können. Dabei ist jeder Einzelne wichtig und gefordert.»
Die Musik vermittelt europäische Werte
Für Andreas Knapp vermittelt die klassische Musik auch europäische Werte. Diese würden allerdings bei der aktuellen Flüchtlingspolitik redlich vermisst, sagt er: «Dass es diese Lager gibt, ist eine politische Entscheidung der Europäischen Union. Initiativen wie wir haben immer grössere Hürden zu meistern, um überhaupt in Kontakt zu kommen mit den Menschen, die in den Lagern leben.» Aufgeben wollen sie aber nicht. Das Projekt «Hangarmusik» soll auf Chios bleiben, solange es dort Flüchtlingscamps gibt.