Swissness ist hoch im Kurs: Das kleine Schweizerkreuz sitzt auf unzähligen Verpackungen – vom Brotaufstrich bis zum Soldatenmesser. Es gäbe allerdings noch ein weiteres «Produkt», das ein «Swiss Made» samt weissem Kreuz auf rotem Feld verdient hätte: Schweizer Jazzschlagzeuger.
In den 1950er-Jahren, als der Jazz in Europa im Aufschwung war, als allenthalben junge Männer (ja, fast nur Männer!) zum Saxofon, zur Trompete und zu den Trommelstöcken griffen, um die aufregende Musik aus Amerika nachzuspielen, zeigte sich schnell ein spezifisches Schweizer Talent: Schlagzeug spielen.
Vier Schlagzeuger gehen nach Paris
Vier junge Musiker waren es, die für diese Schweizer Qualitätsarbeit standen, zwei Westschweizer und zwei Deutschschweizer: Pierre Favre (*1937) aus Le Locle, Daniel Humair (*1938) aus Genf, Charly Antolini (*1937) und Peter Giger (*1939), beide aus Zürich.
Alle vier tauchten Mitte des Jahrzehnts auf und alle waren sie im Teenageralter schon professionelle Musiker. Ihnen wurde die Schweiz schnell zu klein. Antolini, Humair und Giger emigrierten nach Paris, Favre erst nach Deutschland, später auch nach Paris. Deshalb wohl wurde am Anfang in der Schweiz nicht wirklich wahrgenommen, was sich da etabliert hatte.
Der erste, der diese Schlagzeuger-Häufung erkannt und für sich nutzbar gemacht hatte, nicht nur in musikalischer Hinsicht, war George Gruntz (der ja fast überall der erste war, der schlaue Fuchs). In seiner Produktion «From Sticksland with Love» kombinierte er 1967 drei der vier Schlagzeuger (zu denen noch Mani Neumeier stiess) mit Basler Trommlern. Und damit sind wir schon mitten drin im Rätseln, weshalb «Schweiz» und «Schlagzeug» so gut zusammenpasst.
Von wo kommt die Trommelkompetenz?
Natürlich vermuteten damals die Basler lokalpatriotisch, dass ihre hohe Trommelkompetenz direkt zu solch hervorragenden Schlagzeugern führen müsse, wie sie in «Sticksland» auftraten. Keiner der vier erwähnten Drummer allerdings hat etwas mit Basel zu tun. Und vielleicht sind ja die spezifischen Qualitäten eines Basler Trommlers gar nicht so wichtig für einen Jazzer. Komplizierte Paradiddles und präzises Zusammenspiel stehen Leichtigkeit und Swing eher entgegen. Kein Zusammenhang also.
Im Fall von Pierre Favre wurde immer wieder darauf verwiesen, dass er aus Le Locle kommt, aus dem Herz der Uhrenindustrie im Jura. Dass also die Präzision der Schweizer Uhren eine musikalische Entsprechung eben bei den Schlagzeugen hätte. Dumm nur, dass gerade Favre das schlechteste Beispiel für diese Genauigkeit ist. Sein frei fliessendes Spiel klingt eher wie eine Uhr, wie sie Salvator Dali gemalt hat, als einem Chronometer aus dem Jura. Wieder nichts!
Vier «Schulen» des Jazzschlagzeugs
Vielleicht ist die Häufung von hervorragenden Schlagzeugern im Schweizer Jazz der 50er Jahre einfach nur ein schöner Zufall. Einer allerdings, der nicht folgenlos geblieben ist. Jazz wird bekanntlich vom Vater zum Sohn und vom Lehrer zum Schüler weitergegeben. Und wo Vorbilder sind, sind viele ehrgeizige Nachahmer nicht weit.
Wichtiger als zu ergründen, woher die Schlagzeuger-Häufung kommt, ist also die Tatsache, dass damals parallel vier Musikerpersönlichkeiten die Szene betraten, die auf höchstem Niveau musikalisch völlig unterschiedliche Wege einschlugen, und so etwas wie vier «Schulen» begründet haben.
Pierre Favre: der Geschichtenerzähler
Beginnen wir bei Pierre Favre. Er begann Schlagzeug zu spielen, weil in der Tanzkapelle seiner Brüder einer benötigt wurde. Vom Dixieland-Jazzer entwickelte er sich zum Bebopper und entdeckte früh das freie Spiel. Berühmt wurde Favre mit seinen Solo-Konzerten.
Ein Klangmaler und Geschichtenerzähler war da unterwegs, dessen Drum-Set gleichsam schwebte, dem alles Pathetische fehlte. Alles war luftig und leicht. Diese Spielhaltung hat Pierre Favre vielen jungen Kollegen weitergegeben, Lucas Niggli und Conradin Zumthor zum Beispiel.
Charly Antolini: der grosse Swinger
Charly Antolini ist das Gegenteil. Er ist der grosser Swinger, ein blendender Virtuose, ein Alleskönner mit Sticks und Besen, einer, der seine Musiker unbarmherzig vor sich her peitscht. Seit langer Zeit reist Antolini von Deutschland aus mit seinen Hochleistungs-Bands durch die Lande.
Seine berühmteste Platte war «Knock-Out» von 1979, Fachgeschäfte nutzten sie damals als Testplatte für Lautsprecher: Produkte, die Antolinis Schläge aushielten, hatten den Test bestanden.
Charly Antolini hat kaum Schüler, Leute aber, die in jedem Setting höchste Qualität liefern, sind seine Nachfolger: Peter Schmidlin, Elmar Frey, Pius Baschnagel, Tobias Friedli.
Daniel Humair: gemütlich und explosiv
Man sieht es ihm nicht an, er wirkt gemütlich wie ein Bär. Aber in Daniel Humairs Spiel auf Trommeln und Becken lodert ein Feuer, das Musiker um ihn herum buchstäblich brennen lässt.
Humair gewann mit 17 Jahren das Giannini-Schlagzeug, das beim damaligen Amateur Jazz Festival in Zürich alljährlich dem besten Drummer winkte. Kurz darauf war er Profi und spielte in Paris mit Chet Baker, Eric Dolphy und Bud Powell.
Auch mit 75 Jahren ist Humair noch eine Urgewalt: Er wechselt mühelos zwischen treibenden Grooves und freiem Spiel, köchelt auf kleinstem Feuer, um kurz darauf eine Explosion zu zünden. Viele jüngere Kollegen verweisen auf Humair: Marcel Papaux, Dominic Egli, Norbert Pfammatter.
Peter Giger: der Unfassbare
Bleibt Peter Giger. Er ist der Unfassbarste der vier – derjenige, dessen musikalische Reise in die entferntesten Ecken führte. Auch Giger hat mit traditionellem Jazz angefangen. Aber schon früh hat er sich für Trommelrhythmen aus aller Welt interessiert. «Family of Percussion» nannte er sein Unternehmen, und unter diesem Label hatte vieles Platz, von Ethno über Jazz und Rock bis zu Meditationsmusik.
Heute ist Giger als Schlagzeuger nur noch wenig aktiv. Letztlich aber haben viele derjenigen Musiker – nicht nur Perkussionisten – von ihm gelernt, die den Jazz als Sprungbrett in fremde musikalische Welten benützen.
Fredy Studer: Synthese seiner Väter
Zu diesem Schlagzeuger-Quartett kommt allerdings ein fünfter dazu, dessen Einfluss auf jüngere Schlagzeuger Generationen kaum überschätzt werden kann: der Luzerner Fredy Studer (*1948). Er war es, der mit der Gruppe OM in den 70er Jahren die Rockrhythmen für Jazzer nutzbar gemacht hat.
In gewisser Weise ist Fredy Studer eine Synthese seiner vier Väter. Er lebte immer in der Schweiz, war nie abwesend von der Szene: Die jungen Schlagzeuger konnten ihm buchstäblich täglich zuschauen – auf der Bühne und ab und zu in Workshops, wirklich unterrichtet hat Fredy Studer nie. Gleichwohl: die Zahl seiner Nachfolger ist riesig, hier seien nur ein paar der wichtigsten erwähnt: Fabian Kuratli, Dominik Burkhalter, Jojo Mayer, Julian Sartorius, Arno Troxler.
Swissness war das Stichwort zu Anfang. Also erfunden haben wir Schweizer in Sachen Jazzschlagzeug gar nichts, das waren die Amerikaner. Und: Unsere Nachbarn haben unterdessen auch längst mit uns gleichgezogen. Trotzdem dürfen wir uns freuen an der hohen Qualität einheimischer Schlagzeuger. Und unsere Freude ausdrücken, indem wir sie im Konzert besuchen.