Einer der originellsten Musiker der Schweiz ist kurz nach seinem 86. Geburtstag am Mittwoch in Basel gestorben. In seinen musiktheatralischen Werken hat Jürg Wyttenbach einen einzigartigen Stil entwickelt: übermütig und unverblümt, gesellschaftskritisch und voller Witz. Und mit einer fantastisch absurden Hommage an seinen engen Freund Mani Matter hat er sein Lebenswerk abgerundet.
Das Alter ist an ihm nicht spurlos vorübergegangen, und trotzdem ist Jürg Wyttenbach irgendwie immer jung geblieben. Schalk, Humor und eine gute Prise Selbstironie waren seine Begleiter. So sagte er in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag auf Radio SRF 2 Kultur: «Das Leben ist ein Theater – mit tödlichem Ausgang».
Zu viele Interessen
Der in Bern aufgewachsene Wyttenbach war Pianist, Komponist und Dirigent. Während Jahrzehnten war er ausserdem Professor für Klavier an der Musik-Akademie Basel. Zu vieles interessierte ihn, als dass er sich auf eine einzige Karriere hätte beschränken mögen.
Als Solo-Pianist wären ihm alle Türen offen gestanden, aber er konzentrierte sich lieber auf wenige Werke, die ihn dafür ein Leben lang begleiteten. Unvergessen bleibt seine Einspielung von Ludwig van Beethovens Hammerklaviersonate op. 106. Eine radikale Interpretation, Wyttenbach spielt noch schneller als das von Beethoven verlangte und quasi unspielbare Originaltempo, – volles Risiko.
Überhaupt war das Risiko Wyttenbachs Domäne – auch als Komponist.
Eine Violine kaputtgeschlagen
In jungen Jahren ging er zwar durch strenge Schulen abstrakter Musik. Doch den reinen Tönen allein traute er immer weniger. Ein Paukenschlag war dann 1970 sein Streichquartett Exécution ajournée. Es ist eine theatralische Dekonstruktion des Quartetts.
Es ist schön, wenn man sagen kann, man hat keinen Scheiss gebaut im Leben.
Mit den Instrumenten wird alles gemacht, nur nicht gespielt. Und zum Schluss wird sogar eine Violine kaputtgeschlagen. Eine sarkastische Abrechnung mit der Edelgattung der sogenannten Bourgeoisie.
Gesten, Grimassen und Geschichten
Für Wyttenbach war es der Durchbruch zum Théâtre musical. Zu einem Komponieren nicht nur mit Tönen, sondern mit Gesten, Grimassen, Geschichten und Texten. Seinen Interpretinnen und Interpreten schrieb er die Stücke auf den Leib, liess sie in Rollen schlüpfen, spielen, singen, tanzen und sprechen. Einzigartige, clowneske und doppelbödige Werke entstanden dabei.
Nicht zuletzt hat Jürg Wyttenbach auch als Dirigent Enormes geleistet für die neue Musik. Hunderte von Werken hat er uraufgeführt. Dabei setzte er sich speziell für Aussenseiter der Musikgeschichte ein – so zum Beispiel für Charles Ives und vor allem Giacinto Scelsi, dem Wyttenbach zur heutigen Berühmtheit verholfen hat.
Auch als Dirigent hatte er ein Lieblingswerk, das er immer und immer wieder neu einstudierte: «Pierrot Lunaire» von Arnold Schönberg für Sprechgesang und Ensemble.
Sein engster Freund war Mani Matter
Mit 80 Jahren hat Jürg Wyttenbach eine immer wieder hinausgeschobene Lebensaufgabe erfüllt: Mani Matter, sein wohl engster Freund, hatte ihm 1972 das Libretto zu einem Musiktheater geschrieben, in dessen Zentrum ein Autounfall steht.
Kurz darauf starb Mani Matter selbst bei einem Autounfall. Erst vier Jahrzehnte später wagte Wyttenbach den irrwitzigen Text zu vertonen. Das Musiktheater wurde 2015 am Lucerne Festival uraufgeführt.
Ein grosses Original
Jetzt ist der letzte Vorhang in Jürg Wyttenbachs Lebenstheater gefallen. Ein grosses Original der Schweizer Musikszene ist gegangen, ein liebenswürdiger Mensch, Geniesser des Lebens, Fussballfan, der immer mal eine Fussballoper schreiben wollte, ein von Fantasie überbordender Urmusiker.
Im Interview zu seinem 80. Geburtstag resümierte Jürg Wyttenbach wie immer freiheraus: «Es ist schön, wenn man sagen kann, man hat keinen Scheiss gebaut im Leben.»