Eine Flut schriller Informationen rollt über den Bildschirm. Gehässige Beleidigungen wechseln ab mit aufdringlichen Körperposen, begleitet von unaufhörlichem Klingeln, Vibrieren, Zwitschern und Piepen.
Schockartig werde ich überrollt von Bildern und Nachrichten aus den sozialen Medien. Zuerst versuche ich, die einzelnen Mitteilungen zu lesen. Aber es ist unmöglich. Die Abfolge ist viel zu dicht. Schnell fühle ich mich überfordert und bedrängt.
Im Rausch der Reize
«Hate-follow me» heisst diese Komposition von Helga Arias, eine Performance für vier Sopranstimmen und Video. Arias mischt hier vokale Klänge mit den allbekannten Signalen der Handys und lässt dazu auf einem Video Bilder aus Social Media vorbeirauschen. Eine Mischung aus sinnentleerter Verführung und Hass.
Das Übermass an akustischen und visuellen Reizen ist das Ziel des Stückes. Arias macht damit aufmerksam auf den Wasserfall an Meldungen, die tagtäglich auf uns einprasseln. Selbst wenn wir eine Nachricht lesen können, wird sie sofort von der nächsten verdrängt. Die einzelne Information verliert jede Bedeutung.
Dabei verdichtet die Komponistin Klang und Bild auf erschreckend faszinierende Weise und man beginnt zu ahnen, wieso gerade Hass-Nachrichten eine so schnelle und grosse Verbreitung finden.
Die Welt in der Musik
Helga Arias kommt aus dem spanischen Baskenland, ist 1984 in Bilbao geboren und lebt heute in der Schweiz. Wie bei vielen heutigen Komponistinnen und Komponisten kommt auch bei ihr zur Musik noch mehr dazu: Video und Elektronik, die Auseinandersetzung mit sozialen Medien und gesellschaftlichen Strömungen.
Helga Arias ist eine sensible Beobachterin unserer Zeit. Ob Hate Speech, MeToo-Debatte oder Fake News: Nichts blendet sie aus, wenn sie am Komponieren ist. Im Gegenteil: Die Welt, auch die virtuelle der digitalen Medien, fliesst in ihre Musik mit ein.
«Der Kontakt mit der Gesellschaft ist mir sehr wichtig», sagt sie. «Es heisst ja zeitgenössische Musik, also muss sie auch zeitgenössisch sein. Was in der Welt passiert, hat auch eine Wirkung auf meine musikalischen Ideen.»
«So sorry»
Helga Arias Stück «Hate-follow me» zeigt drastisch auf, dass der unbegrenzte Raum des World Wide Web nicht für ein Maximum an Offenheit und Diversität genutzt wird.
Vielmehr verengt sich die Perspektive, wenn Influencerinnen und Blogger normierte Klischees verbreiten und alte Rollenbilder zementieren. Und statt im Internet differenzierte Vielstimmigkeit zu feiern, lässt ungehemmte Hassrede viele verstummen.
«Hate-follow me» endet – nach einem medialen Kollaps – mit einem Schwall von Entschuldigungen. Versöhnlich aber ist das nicht. Denn auch die tausendfachen «Sorrys» wirken klebrig und scheinheilig.
Komplexe Interaktion
Dieses Stück ist ein erstaunliches Paradox: Helga Arias komponiert eine Musik, die mich auffordert, sie abzustellen. Wenn ich es tue, entziehe ich mich dem Wahnsinn der Welt, wenn ich es nicht tue, unterwerfe ich mich ihm.
Für Helga Arias ist es auch eine radikale Form, über ihre Rolle als Komponistin zu reflektieren: «Die Interpreten meiner Musik sind keine Spielmaschinen, und ich bin kein Chef, der sagt: Du machst das! Vielmehr geht es um komplexe Interaktionen.» Auch mit dem Publikum.
Und so vermittelt Helga Arias auch keine Botschaft. Wir Zuhörenden müssen selbst herausfinden, wie wir mit den Widersprüchen und Verrücktheiten klarkommen.