Es ist kalt. Ein eisiger Wind bläst ins Gesicht. Zusammen mit Giovanni Netzer stapfe ich durch den Schnee, auf dem Weg zum Julierturm. Der Julierpass im Kanton Graubünden ist 2284 Meter hoch. Die Gipfel ragen in die Höhe.
Ausgerechnet hier liess der Regisseur Giovanni Netzer einen Theaterturm bauen, vorübergehend, für ein paar Jahre. Der Turm fällt auf. Er ist knallrot, aber mit 30 Metern Höhe keine Konkurrenz für die atemberaubende Natur.
Kein klinischer Theater-Raum
Wir betreten den Julierturm. Die Handwerker bohren und schrauben. Die Sänger machen sich zur Probe bereit. Drei Tenöre und zwei Baritone stehen auf einer runden Hebebühne und werden in die Luft gehoben.
«Hier ist schon der Weg zum Theater ein eindrückliches Erlebnis», findet Giovanni Netzer. «Wir sind hier an einem rauen Ort in einer Landschaft, die nicht für den Menschen gemacht ist.»
«Seelsorge ist nicht meine Stärke»
Die Landschaft sei «seit Jahrmillionen unverändert, sie trägt die Spur des Ewigen». Giovanni Netzer ist kein aufdringlicher PR-Guru. Er pflegt Bündner Understatement.
Er weiss, was er kann, trägt den Reinhart-Ring, die höchste Auszeichnung im Schweizer Theaterleben, aber nicht zur Schau. Er spricht nicht von sich, sondern von seinem Team und dem Anliegen, das er hat.
Hört man ihm zu, fallen immer wieder religiöse Metaphern. Sein Lebensweg kommt zum Klingen: Er ist römisch-katholisch geprägt aufgewachsen und hat nicht nur Theaterwissenschaft, sondern auch Theologie studiert. Netzer war eine Zeitlang sogar im Churer Priesterseminar. Doch er merkte, dass die Seelsorge nicht seine Stärke ist.
Ein Künstler, kein Kleriker
In gewisser Weise ist Netzer trotzdem Seelsorger geworden. Seine Sprache ist nicht klerikal, sondern künstlerisch. Er sagt über die Passionskonzerte: «Man kann sie in einem trockenen Konzertsaal aufführen. Aber man kann eine Meditation über den Tod auch in der Natur aufführen, die das gleiche erzählt. Tod und Winter laden ein, über das Zyklische nachzudenken.»
Anders als im Tal naht in den Bergen während der Passionszeit noch nicht der Frühling. «Die Passionszeit ist ein Kampf», meint Giovanni Netzer. Der Schnee schwindet, die Sonne wird stärker, die Lawinengefahr steigt. «Dieses Spiel zwischen einerseits Winter und Tod, andererseits der Sonne, die immer stärker wird, das ist für mich ein Kampf, der zur Passion passt.»
Religion künstlerisch erzählen, nicht dogmatisch
Giovanni Netzer will mit seiner spirituellen Kunst Freiräume schaffen. «Die Seele atmen lassen», wie er betont, und den musikalischen Raum «nicht mit Informationen vollkleckern».
Nach wie vor sieht er sich als gläubigen Menschen. «Meine Art, damit umzugehen, heisst: von Gott zu erzählen. Künstlerisch, nicht dogmatisch», sagt der Bündner.
Der erfolgreiche Regisseur könnte wohl an vielen Bühnen der Welt inszenieren. Trotzdem hat er sich für das Bündner Origen-Festival entschieden. Hier ist er einfach zuhause: «Der Wechsel vom Tageslicht in eine Mondnacht ist für mich etwas vom Faszinierendsten. Das kann man nicht steigern», sagt Giovanni Netzer. 50 Fenster im Julierturm machen die Sterne zum Greifen nah.
Gott? – «Vielleicht das Gefühl einer Zuversicht»
Giovanni Netzer ist religiös musikalisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Gott ist für ihn schwer greifbar. «Vielleicht das Gefühl einer Zuversicht, einer Präsenz», sagt er.
Ein paar Stunden später sind die Proben im Julierturm zu Ende. Kerzen tauchen das Innere des Turms in ein schummriges Licht. Draussen weht ein eiskalter Wind.
Es ist Nacht geworden. Eine eigentümliche Atmosphäre, sinnlich und kitschig zugleich. Wie eine eisige Passionsnacht, die auf die Wärme des Ostermorgens wartet.