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Kunstprojekt zur Coronakrise Der vielstimmige Sound der stillen Städte

Die Künstlerin Veronika Spierenburg lässt uns den Klängen von menschenleeren Städten in der Coronakrise lauschen. Und die Gegenwart mit den Ohren erleben.

Still ist es in den Städten. Belebte Plätze, nervöse Boulevards, sie sind nicht nur leer, sondern auch still. Corona-still. Die Massen-Quarantäne hat die Wirklichkeit verändert. Kein lautes Hupen mehr, kein Stimmengewirr. Keine Strassenmusik, nicht mal Kindergeschrei. Einfach nichts, nur Stille.

Stimmt das? Oder klingen die Städte nur anders?

Mit den Ohren in der Welt

Die visuelle Künstlerin Veronika Spierenburg will uns die Ohren öffnen. Seit Wochen ist sie an ihre Wohnung gefesselt, denn sie gehört zu einer Risikogruppe.

Der Blick aus dem Fenster auf die Strasse in Zürich Wiedikon, wo Freunde und Bekannte mit ihr reden können, ist der einzige nicht-digitale Kontakt zur Aussenwelt.

Eine Frau in Jeans und weisser Bluse.
Legende: Für ihr Projekt befasst sich die Künstlerin Veronika Spierenburg mit Ton: Mit dem Klang der Coronazeit. zVg

Sie hätte sich gefragt, erzählt sie am Fenster, wie sie mit der Welt in Kontakt treten könne, nicht nur nur via News oder Zeitungen. «Ich wollte mir noch ein anderes Bild machen. Ein feineres, sensibleres Bild. Etwas, das ich vermisse.»

Wie klingen stille Strassen?

Die Bilder von leeren Strassen und Stränden in Rio de Janeiro, die sie im Internet sah, machten sie neugierig: «Wie klingen diese Strassen? Was für ein Sound kommt aus diesen Wohnungen? Wie tönen diese ‹stillen› Städte?»

Das war der Beginn eines sozialen Kunstprojekts. Veronika Spierenburg kontaktierte Tontechnikerinnen und Tontechniker in der ganzen Welt. Sie recherchierte und führte lange Telefongespräche mit ihnen, um sie für ihre Idee zu begeistern: ein digitales Archiv mit Sounds aus den scheinbar verstummten Städten dieser Welt.

Lockdown als Hürde

Doch so einfach war das nicht. In viele Metropolen herrscht Lockdown. Ein Tontechniker in Rom wurde dutzende Male kontrolliert. Tontechnikerinnen und Tontechniker in Indien hätten Angst, auf die Strasse zu gehen, weil sie Gefahr laufen, verprügelt zu werden, berichtet Veronika Spierenburg.

Ein Bild eines Marktes mit Kacheln im Vordergrund.
Legende: Auf der Webseite kann man durch stillgelegte Städte scrollen. Mancherorts bleibt es laut: etwa auf einem Markt in Pakistan, wo es keinen Lockdown gibt. Screenshot Massfiles.net

Trotzdem hat sie es geschafft. Auf Massfiles.net findet man Töne und Sounds von über 50 Orten, Plätzen und Strassen. Die Klänge – jeweils mit einem Bild versehen – beschreiben auf ganz besondere Weise die politischen Umstände. «Sie heben das Unsichtbare hervor», erzählt Veronika Spierenburg, «das Ungehörte, das Umherirrende und das Schwache.»

Hören als Entdeckungsreise

Still ist es an keinem dieser Orte. Auf der Akropolis in Athen, einem Hotspot für Touristen, hört man nur entfernte Stimmen, einzelne Vögel und das Rauschen der Stadt, irgendwo weit unten. In Genua quaken im Zentrum Frösche. Und auf dem engen Naschmarkt in Wien ahnt man die Abwesenheit der schreienden Händler. Man vernimmt ein Summen, vielleicht die U-Bahn, die im Untergrund rattert.

Man muss sich hineinhören in diese Sounds. Das Geheimnis der ruhigeren, leiseren Städte erschliesst sich oft erst mit der Zeit, wenn das Hören auf Entdeckungsreise geht. Dann spürt man die feinen Unterschiede und das, was all diese Orte verbindet: Die globale Krise, ausgelöst durch ein Virus.

Gegen die Ohnmacht

«Wir schlittern da in etwas hinein,» sagt Veronika Spierenburg an ihrem Fenster in Zürich Wiedikon, «was gravierend ist. Vor allem für arme Länder. Das Projekt ist auch eine Auseinandersetzung mit meiner Ohnmacht. Es sensibilisiert für Orte, die nicht nur weit weg sind. Die meisten Länder werden auch jetzt nur von nationalen Interessen geleitet, obwohl die Krise global ist.»

Manche tun sich im Umgang mit dem Covid 19-Virus schwer. Ein Sound führt nach Pakistan, auf den Markt in Bahawalpur. Dort gibt es keinen Lockdown. Dort müssen die Leute raus, in den täglichen Kampf ums Überleben. Und der findet auf den Strassen statt. Trotz Virus, trotz der Gefahr zu erkranken.

SRF 1, Kulturplatz, 29.4.2020

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