Zu seinem 20. Jubiläum überraschte das Lucerne Piano-Festival: Neben klassischen Rezitals wurde der neuen Klaviermusik deutlich mehr Raum gewährt.
Das Publikum konnte erleben, dass auch nach Debussy und Ravel attraktive Klaviermusik komponiert wurde. Zum ersten Mal erklangen Meilensteine des neueren Repertoires von Pierre Boulez oder John Cage. Was für eine Bereicherung – oder vielmehr: nötige Vervollständigung!
Neu bis revolutionär
Der 48-jährige Pianist Nicolas Hodges, ein Experte für neue Klaviermusik, spielte ausschliesslich Werke der letzten 45 Jahre. Sein stupendes Können zeigte er etwa mit «Abzweigung» von Francesco Ciurlo, welches mit seinen kreisenden Begleitfiguren als Weiterentwicklung von Debussys «Feux d’artifice» gehört werden kann.
Nicht nur beim Repertoire, auch hinsichtlich der Interpretation wurden Türen aufgestossen. Eine geradezu revolutionäre Sicht der Goldberg-Variationen von J. S. Bach präsentierte Orgelvirtuose Cameron Carpenter mit seiner digitalen «International Touring Organ».
Schon rein optisch setzte er mit seiner selbst kreierten Orgel ein Zeichen: Auf der Bühne waren mehrere Lautsprecher und Rechner platziert, in purpurnes Licht getaucht. Der imposante Spieltisch mit fünf Manualen und unzähligen bunten Knöpfen mutete an wie das Cockpit eines Raumschiffs.
Vor allem aber musikalisch zog Carpenter buchstäblich alle Register, mit scheinbar unlimitierten manuellen und peduellen Fähigkeiten: Unerhört kühn klang die eröffnende «Aria», die sonst eigentlich immer leise gespielt wird. Der 37-Jährige brach mit dieser Tradition, spielte freudig und forte, ziemlich rasch, differenziert artikuliert, reich verziert und mit kräftigen Klangfarben.
Ein bunter Strauss an Klängen
Bei jeder der anschliessenden 30 Variationen wechselte er die Registrierung, oft auch innerhalb einer Variation. Einerseits machte Carpenter damit die polyphonen Vorgänge besser erlebbar. Bald ertönte eine Melodiestimme kräftiger, bald die sie umschwirrenden, brillanten Begleitläufe. Auch die Echo- und Dialog-Effekte kamen so besonders gut zur Geltung.
Andererseits spitzte Carpenter auch seine Charakterisierung der einzelnen Variationen zu: Die französische Ouvertüre strahlte im festlichen Klang einer Kathedralenorgel. Später benutzte der Organist Glöckchenregister oder sogar Synthesizersounds.
Trotz der vielen Wechsel folgte diese Interpretation einer ausgeklügelten Dramaturgie, welche den lustvollen Klangstrauss zusammenhielt. So spielte Carpenter etwa die abschliessende Reprise der «Aria», nachdem quasi alles gesagt ist, leise zurückgenommen, fast ätherisch.
Das Raumschiff hebt ab
Diese modernen Klänge sind für Orgelpuristen wohl kaum etwas. Aber sie inspirieren: Weiss doch keiner, wie Bach selbst seine Variationen gespielt hätte, wenn er unsere modernen Instrumente zur Verfügung gehabt hätte. Die virtuosen Spielereien seines Notentexts deuten jedenfalls darauf hin, dass er weit über den Klang seines Cembalos hinaus dachte.
Nach der Pause trumpfte Carpenter noch mit der filmmusikartigen 2. Sinfonie von Howard Hanson auf – in einer eigenen, hochvirtuosen Bearbeitung. Mit allen Händen und Füssen voll beschäftigt, schien Carpenter im vibrierenden Klangrausch und mit seiner Raumschiff-Orgel bisweilen fast abzuheben. Vielleicht in Richtung Zukunft des Lucerne Piano-Festivals?
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 27.11.2018, 7:20 Uhr