Michael Gielen war mitgerissen von der Kraft der Musik – und misstraute ihr gleichzeitig. Er liebte die Emotion – und wollte sich ihr nicht ausliefern.
Er suchte nicht nach den einfachen Lösungen, sondern nach den vielen Schichten aus Traditionen, Visionen und Klischees. Die an den älteren wie auch an ganz neuen Werken kleben. Dagegen gelte es etwas zu tun.
Er sucht nach dem Kern, dem wahren Gehalt der Musik. Der war für Gielen nie hübsch und glatt, sondern hatte mit existenziellen Kräften zu tun.
Kein Pathos
1927 ist Michael Gielen in Dresden in eine Künstlerfamilie hinein geboren. Der Vater Theaterregisseur, später Direktor des Wiener Burgtheaters, die Mutter eine gefragte Schauspielerin. Der Onkel ein berühmter Cellist, die gesamte Verwandtschaft kulturbegeistert.
Da die Mutter Jüdin ist, gilt auch ihr Sohn als Jude, die Familie muss nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fliehen. Erst nach Österreich, dann nach Argentinien.
Am Teatro Colòn trifft Michael Gielen den legendären Dirigenten Erich Kleiber und lernt von ihm das analytische Denken, das in seinem Leben so wichtig werden sollte. Er lernt, den scharfen Verstand zu nutzen und den Klischees, den unhinterfragten Haltungen und vor allem hohlem Pathos gründlich zu misstrauen.
Eine legendäre Ära
Nach dem Krieg kehrt er nach Wien zurück, wird Kapellmeister an der Staatsoper, setzt sich für die jungen aufstrebenden Komponisten seiner Generation – wie Bernd Alois Zimmermann – ein, und für die Komponisten der Wiener Schule: Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern.
Im reifen Alter von 50 Jahren macht Gielen den entscheidenden Schritt, für den er berühmt und gefürchtet werden wird: Er wird Generalmusikdirektor an der Oper Frankfurt und läutet zusammen mit den Regisseuren Hans Neuenfels und Ruth Berghaus die Ära des Regietheaters ein.
Dafür, dass er den versteinerten Musikbetrieb neu beleben will, wird er angefeindet wie bewundert. Es gibt Skandale, böses Blut und Begeisterungsstürme. Michael Gielen liebt es, denn das ist genau, was er will: dass die Leute anfangen, sich mit der Kunst auseinanderzusetzen, dass sie diskutieren und sich einmischen.
Lustvoll streitbar und engagiert bis zuletzt
Gielen ebnet der avancierten Regie den Weg aus dem Sprechtheater in die Oper, hat nach zehn Jahren aber genug. Die Regie werde zu überstülpend, sagt er, die Musik komme zu kurz.
Er übernimmt das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dirigiert an der Staatskapelle Berlin Beethoven, Bruckner, Mahler, Schönberg. Viele Werke des 20. Jahrhundert sind darunter, und viele Uraufführungen.
Gielen ist weiterhin der lustvoll streitbare Intellektuelle: «Intellektuell zu sein, heisst doch, dass man intus legere kann, dass man in den Werken was lesen kann, dass man aus dem Lesen dieser schwarzen Punkte auf weissem Papier Gedanken darüber empfängt, wie diese schwarzen Noten nun in Töne transponiert werden sollen. Intellektuell zu sein – wenn das von mir gesagt wird, dann ist das ein Kompliment, weil ich kein Musikant bin, der aus dem Bauch impulsiv, instinktiv sogar operiert.»
Einfach hat es sich Michel Gielen nie gemacht. Sich nicht, und uns nicht – zum Glück.