Man muss sich das vorstellen wie Filmmusik, nur umgekehrt. Das heisst: Die Musik begleitet nicht das Bild, sondern das Bild begleitet die Musik. Salome Scheidegger spielt bei der Premiere von «Salomes Envisage» am vergangenen Dienstag vor einer grossen Leinwand, auf der grossflächig ein Film mit einer Art Reise projiziert ist.
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Bäume und Totennköpfe zu Chopin
Mit Chopins 2. Klaviersonate beginnt sie, und das Publikum spaziert zu den Klängen durch einen Wald, oder besser gesagt, wird durch einen Wald spaziert. Wenn die Musik düster wird, wird auch der Wald auf der Leinwand düster. Und bei friedlicheren Klängen zeigt sich der Wald hell und freundlich.
Nach einer rasanten Fahrt durch eine Höhle und einem Flug über eine Blumenwiese betritt das Publikum eine Waldlichtung mit Felsbrocken, auf denen schwach Totenköpfe eingraviert sind. Dazu spielt Salome Scheidegger den bekannten Trauermarsch von Chopin.
Zu Mozart Sonate Nr. 16 öffnen sich auf der Leinwand die Türe zu einem Herrschaftshaus, mit jedem Satz treten die Zuhörer in ein anderes Zimmer, mal mit antiken Statuen, mal mit Bildern in Goldrahmen oder auch in ein Entrée mit einem mächtigen Kronleuchter. Im dritten Teil geht es dann mit Chopin wieder raus in den Wald, anschliessend ein langer Blick in den wolkenverhangenen Himmel und abschliessend noch ein Sternenhimmel.
Zu einfach gestrickte Bebilderung
Ein filmisches Konzept, das leider allzu oft in Kitsch abdriftet und nicht selten zu einfach gestrickt ist, etwa mit den Totenköpfen auf den Felsen beim Totenmarsch oder mit der Angleichung des Bildes an die Musik. Am meisten erstaunen aber die konventionellen Bilder. Das Herrschaftshaus bestätigt ganz und gar das Klischee der klassischen Musik. Schade, denn diese Konzertform hätte durchaus Potenzial, das Biedere, das der klassischen Musik anhaftet, wegzupusten.
Auch musikalisch hat der Abend leider nicht überzeugt: Salome Scheidegger legt zu wenig Eigensinn in ihre Interpretation. Zu klein sind die Kontraste zwischen schwer und schwerelos, und Chopin lebt von diesen Kontrasten wie auch von der verzwickten Rhythmik, vom Timing, das auch nicht immer ganz auf den Punkt sitzt.
Einiges, wenn auch bei weitem nicht alles, hat damit zu tun, dass die Pianistin ihren Flügel nicht ganz geöffnet hat und der Klang so gedämpft und undurchsichtig wird und die grosse Tonhalle nicht ausfüllen kann.
Neue Impulse für die klassische Musik?
Eine Szene auf der Leinwand aber zeigt, wohin diese Konzertform führen kann: In einem Zimmer des Herrschaftshauses gibt es auch einen Spiegelsaal. Im Film spiegelt sich Salome Scheidegger auf der Bühne. Plötzlich steht die projizierte Film-Salome auf und läuft davon, obwohl das Konzert noch nicht zu Ende ist. Eine schöne Spielerei, jedoch mit der Gefahr, dass die Musik rasch zu Beigemüse wird.
Klassik-Fans müssen bei «Salomes Envisage» also umdenken, für Nicht-Klassiker ist es eine schöne Gelegenheit, sich dieser Musik anzunähern. Vielleicht wäre das Projekt jünger und moderner mit ausgeklügelten, abstrakten Projektionen. Auch mit Projektionen, die nicht visuell darstellen, was man bei der Musik fühlen soll. Aber trotzdem: Salome Scheidegger geht mit ihrem Projekt einen Schritt in die richtige Richtung, das klassische Rezital aufzubrechen.