Herbie Hancock hat eine Botschaft: Jazz, das ist eine Lebensschule. Und damit diese Botschaft auch bei eiligen Lesern ankommt, redet er nicht lange um den heissen Brei herum.
In seiner Autobiografie «Possibilities», die kürzlich auf englisch erschienen ist, ist also auf den ersten Seiten keine Rede von Geburtsort, von Vater und Mutter, es gibt keine langatmigen Berichte von einsamen Übungsstunden auf schlecht gestimmten Klavieren, nein: Wir treffen Herbie Hancock gleich mitten in einem Konzert mit einem der grössten Bandleader aller Zeiten, Miles Davis. Und wir sind hautnah dabei, als Hancock – einen Fehler spielt.
Und was macht der grosse Miles Davis? Er hält einen Moment inne – und spielt dann einen Ton, der aus dem Fehler von Herbie Hancock etwas macht, das funktioniert. Und so lernt Herbie Hancock, und wir lernen mit ihm: Wer es schafft, nicht zu urteilen und sich so dem Moment hinzugeben, wie das im Idealfall Jazzmusiker tun, der hört nie auf, Neues zu entdecken. In der Musik, aber auch im Leben.
Berg- und Talfahrten
Und man muss Neues entdecken wollen, um sich einzulassen auf dieses Buch. Es beschreibt das Leben eines Jazzmusikers, nicht eines Film-Stars, dem man schon täglich in den Boulevard-Zeitungen begegnet. Oft geht es um ziemlich wilde Musik, es kommen viele Namen vor und viele Geschichten von jungen Musikern, die Party machen und ihr Bewusstsein erweitern möchten. Und das nicht nur mit vegetarischer Kost oder Buddhismus. Wer solche Berg- und Talfahrten nicht gerne liest, sich auf so kompromisslose Versuch-und-Irrtum-Geschichten nicht gerne einlässt, der sollte die Finger von dieser Lebensgeschichte lassen.
Packend und informativ
Alle andern aber, die ein etwas langatmiges Name-Dropping auch mal querlesen können und gelassen genug sind, einem jungen Mann, der sehr schnell sehr berühmt wird, eine gewisse Ich-Bezogenheit nachzusehen, die werden reich belohnt. Denn wie Herbie Hancock es schafft, vom abgebrochenen Techniker-Studium zu Miles Davis in die Band zu kommen, das liest sich fast wie ein Krimi.
Wie er danach die 70er-Jahre erlebt und den Wechsel vom Sideman zum Bandleader, das ist packend und darüber hinaus ein informatives Stück amerikanischer Zeitgeschichte. Und wie ihm schliesslich der Buddhismus nicht nur hilft, auf immer wieder neue Ideen zu kommen, sondern auch seine Sucht endlich hinter sich zu lassen (Hancock war crackabhängig und berichtet in diesem Buch zum ersten Mal davon), das ist nichts weniger als inspirierend.
Die CD zum Buch fehlt
Link zum Thema
Besonders schön ist es, wenn man die Zeit hat, ein solches Buch neben einem Computer zu lesen: Die allermeisten Alben von Herbie Hancock sind ja heutzutage zumindest in Auszügen im Netz zu finden. Und wenn man sich den Herbie-Hancock-Hit «Watermelon Man» anhören und gleichzeitig lesen kann, welche Gedanken zum Stück geführt haben, oder wenn man über die komplexen Stücke aus der so genannten Mwandishi-Zeit etwas erfährt und dazu wieder in diese 70er-Jahre-Synthesizer-Soundwelt eintauchen kann, dann ist das einfach ein Geschenk. Oder anders gesagt: Eine Sampler-CD wäre im Falle von «Possibilities» sicher das Tüpfelchen auf dem i gewesen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Jazz aktuell, 9.12.2014, 20:00 Uhr.