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Anouar Brahem begann bereits als Zehnjähriger am National-Konservatorium in Tunis mit dem Spiel auf der Oud. Die Oud, die nahöstliche Laute, wird in der traditionellen arabischen Musik vorwiegend zur Unterhaltung und auf Hochzeiten gespielt. Diese reine Begleitfunktion befriedigt Anouar Brahem aber auf Dauer nicht.
Worldmusic-Star dank ECM
Er beginnt früh eigene Kompositionen zu schreiben, in denen die Oud mehr in den Vordergrund tritt. Ausserdem interessiert sich Anouar Brahem sehr für den Jazz und verbindet ihn mit der arabischen Musik. Dies wirkt überhaupt nicht so, als klebe er zwei Sachen zusammen. Vielmehr ist das die Musik, die er schreibt, die er spielt und in der er sich selber wiedererkennt.
Diese Mischung erzeugt seit Ende der 1980er-Jahre ein grosses Echo in der Öffentlichkeit und ermöglicht Brahem Tourneen durch Europa und Amerika. In den USA lernt er den deutschen Produzenten Manfred Eicher kennen, dessen audiophiles Label ECM (Keith Jarrett, Jan Garbarek) perfekt zu Anouar Brahems gefühlvoller Musik passt. Die Zusammenarbeit mit dem renommierten Jazzlabel macht Anouar Brahem zu einem bekannten Worldmusic-Star.
Im Auge der Revolution
Die Jasminrevolution im Jahr 2010 erlebt Anouar Brahem in den Strassen von Tunis, dem Epizentrum des Arabischen Frühlings. Die politische Umwälzung sei eine riesige Dosis «Freiheit» für die Tunesier, meint Anouar Brahem. Freie Meinungsäusserung und Interesse an der politischen Debatte sind neu.
Anouar Brahem ist selber nicht aktiv in der Politik, aber verfolgt sie passioniert mit und nimmt als Kulturschaffender die Position des Beobachters ein. Er macht sich wegen des korrupten Regimes schon lange Sorgen um die Zukunft des Landes.
Und als das Regime schliesslich abgesetzt wird, spürt er die Hoffnung und den Elan, der durchs Volk geht. Ein Erlebnis, das ihn stark prägt, der die Freiheit als etwas Heiliges betrachtet.
Die musikalische Verarbeitung braucht Abstand
Anouar Brahem will seine starken Eindrücke künstlerisch verarbeiten und macht sich – noch während draussen die Proteste laufen – ans Komponieren. Doch es läuft nicht. Die musikalischen Skizzen, die er festhält, erscheinen ihm banal und der Zeitpunkt der falsche. Er hört fast gänzlich auf zu arbeiten. Zu gross ist die Geschichte, die sich auf der Strasse abspielt.
Anouar Brahem komponiert sehr intuitiv und kann oft nicht genau orten, woher die Inspiration zu einer Komposition kommt. Oft ist es einfach ein Gefühl oder eine Erinnerung. Daraus entstehen dann kleine musikalische Bausteine, die er erst aussortiert und später zu einem Ganzen zusammenfügt. Um die Jasminrevolution musikalisch zu verarbeiten, braucht Anouar Brahem emotionalen Abstand und Zeit.
Die Revolution lässt sich in der Musik erahnen
Im November 2014 erscheint schliesslich doch die musikalische Erinnerung an den Arabischen Frühling: Die Doppel CD «Souvenance» nimmt Anouar Brahem mit seiner langjährigen Band auf und ergänzt die Musik mit einem Orchester, dem Orchestra Svizzera Italiana.
«Souvenance» ist in erster Linie vom schwebenden, warmen Ton der Oud geprägt. Schon wenige Töne kreieren eine weiche, hoffnungsvolle und gleichzeitig melancholische Stimmung.
Durch die Kombination mit dem Orchester entstehen aber auch Brüche, Kontraste und musikalische Spannung. Aus ihnen lässt sich erahnen, wie der Konflikt und die Ereignisse der Revolution auf Anouar Brahem und seine Musik eingewirkt haben. Auf «Souvenance» verschmelzen Freude, Hoffnung und Aufbruchstimmung, aber auch Befürchtungen und Ungewissheit.