«Vivaldi hat nicht 500 Konzerte geschrieben, sondern 500 Mal dasselbe Konzert.» So verspottete der 200 Jahre später lebende Berufskollege Igor Strawinsky den venezianischen Barock-Komponisten und Geiger Antonio Vivaldi und ist damit bis heute nicht allein. Andrea Marcon, der Gründer des Venice Baroque Orchestra und Spezialist für Vivaldi, widerspricht dem vehement: «Wenn es so wäre, wieso haben dann so viele spätere Komponisten – beispielsweise Bach, Händel und Telemann – Vivaldis Musik studiert, transkribiert und adaptiert?»
Der erste minimalistische Komponist
Andrea Marcon ist aber einverstanden mit der Aussage, dass Vivaldis Ästhetik sich gleicht. Das habe mit seiner Kompositionstechnik zu tun: «Mit sehr wenig technischen und rhythmischen Mitteln hat Vivaldi Dutzende von Melodien für Konzerte und Symphonien geschaffen.»
Und zwar, indem er quasi kleine thematische und rhythmische Zellen benutzte, die er immer wieder anders wiederholte, und das geradezu obsessiv. Marcon vergleicht diese Kompositionsweise mit der in den 1960 Jahren entstandenen «Minimal Music»: «Meiner Meinung nach war Vivaldi der erste minimalistische Komponist in der Geschichte der Musik.»
Bach gewinnt immer, Vivaldi nicht
Auch den Eindruck der Eintönigkeit in Vivaldis Musik kann Andrea Marcon nachvollziehen: «Vivaldi kann todlangweilig klingen, wenn man ihn nicht richtig spielt.» Im Gegensatz zu anderen Komponisten, bei denen die Musik bereits beim Lesen der Partitur lebendig werde, sehe man Vivaldis Reichtum nicht in den Noten. Der ergebe sich erst beim Spielen.
Und das ist für ihn beispielsweise der Unterschied zu Johann Sebastian Bach: «Bach kann man nicht kaputt machen, egal wie schlecht man ihn spielt. Es spielt keine Rolle, welches Tempo man wählt oder mit welchen – auch schlechten – Instrumenten man ihn spielt, er gewinnt immer. Vivaldi hingegen macht man völlig kaputt, wenn man seine Sprache nicht versteht.»
«Knusprig» wie frisches Brot
Und wie ist sie, seine Sprache? Andrea Marcon: «Vivaldi hat seine Musik jeweils in einem Wurf geschrieben, sie sprudelte wie Wasser aus einer Quelle nur so aus ihm heraus. Anschliessend radierte er aus, was ihm zu viel erschien, manchmal zehn Takte oder mehr.» Dies könne man sehen, wenn man seine Originalpartituren studiert. Vivaldi selbst habe offenbar nicht ohne Stolz gesagt, dass er ein Konzert schneller komponiere, als ein Kopist es aufschreiben könne.
Seine Technik ist also die des Reduzierens, bis nur noch ein Konzentrat bleibt, ähnlich der eines Bildhauers. «Dies aber immer ganz spontan und lebhaft», so Marcon. Und genauso solle man Vivaldi spielen: frisch, ganz im Moment, immer ein wenig improvisiert – sozusagen als «perfekte Imperfektion». Oder anders gesagt: «Knusprig wie das Brot, das gerade aus dem Ofen kommt.»
Ein Pionier in Sachen Improvisation
Für Andrea Marcon liegt Vivaldis Grösse aber nicht nur in diesem Schwung des kreativen Feuers: «Vivaldi war für mich ein Pionier, ein Vorläufer. Er war der erste im Bereich der Konzert-Literatur, der den Solisten viel Freiheit einräumte.»
Er stellte sie vor das Orchester und gab ihnen für ihre Solo-Stellen keine klaren Tempovorgaben. Sie durften also frei improvisieren, was damals neu war. Und was später auch von anderen Komponisten wie Bach, Mozart und den Romantikern übernommen wurde.
Der Priester und die Mädchen
Möglich geworden war dies nicht zuletzt durch die Umstände, in denen er komponierte. Geboren als Sohn eines Violonisten bekam er schon früh Geigenunterricht. Sein Vater wollte aber, dass Vivaldi erst einmal zu einer kirchlichen Würde komme, um sich des Wohlwollens der Kirche sicher zu sein. So wurde er mit 25 Jahren zum Priester geweiht, übte aber aus – wie es offiziell hiess – «gesundheitlichen Gründen» sein Amt nur kurz aus.
Noch im gleichen Jahr wurde er Musiklehrer im «Ospedale della Pietà», einem Waisenhaus für junge Mädchen. Dort gab er seinen Schülerinnen von klein auf täglich Musikunterricht. Die meisten Mädchen konnten dadurch zwei bis drei Instrumente spielen und waren ebenso vertraut mit Solo-Gesang. Sein Vertrag schrieb ihm vor, dass er wöchentlich ein neues Konzert komponiere. Was er tat, und es jeweils mit seinem Mädchen-Orchester und -Chor aufführte.
Ein Waisenorchester mit internationaler Ausstrahlung
Das Orchester erarbeitete sich so ein immer grösseres Renommee bis über die Landesgrenzen hinaus. Dies hatte auch mit Vivaldis virtuosem Geigenspiel zu tun, denn er galt unterdessen als einer der besten Violinisten der Zeit. «Aber», so Andrea Marcon, «entscheidend war auch, dass durch diese jahrzehntelange intensive Zusammenarbeit das Orchester sich immer besser kannte und nach und nach eine ganz eigene musikalische Sprache entwickeln konnte. In der heutigen Zeit, in der viele Musiker immer wieder in anderen Besetzungen spielen, ist das fast nicht mehr möglich.»
So folgte das Orchester Vivaldis Bewegungen praktisch wie ein Schatten, was Raum für viel Freiheit ermöglichte. «Schlussendlich erlaubte erst diese Sicherheit und dieses Fundament, dass sich das Solo-Instrument immer mehr Freiheiten nehmen und immer stärker frei improvisieren konnte.»
Frauen in einer reinen Männerwelt
Ein reines Frauenorchester mit internationalem Renommee zu einer Zeit, als Frauen in der Musik eigentlich verboten waren und auch die hohen Stimmen von Kastraten gesungen wurden? «Ja, Venedig und dieses Waisenhaus waren damals neben ganz wenigen anderen eine Ausnahme», so Andrea Marcon.
Auch hier kann Vivaldi also durchaus als Vorläufer bezeichnet werden. Mit dem Unterschied, dass dieses Novum so schnell nicht von anderen übernommen wurde – wenn man zum Beispiel daran denkt, dass Frauen bei den Wiener Philharmonikern bis vor 15 Jahren nicht zugelassen waren.