Cameron Carpenter überlässt nichts dem Zufall. Mit seinem glitzernden Frack, dem kantigen Irokesenhaarschnitt, den dornenbewehrten Schuhen und gestählten Oberarmmuskeln ist er ein fleischgewordenes Ausrufezeichen. Überall Stacheln, jede Faser muss kämpfen, alles an ihm scheint zu schreien: «Ich! Bin! Anders!».
Doch die rotzige Punk-Attitüde, die der Bad Boy der Orgel mitunter so angestrengt bemüht, könnte auf eine falsche Fährte führen. So gibt es scheinbar immer noch Leute, die in Carpenter den unseriösen, gedankenlosen Frevler sehen, dem nichts auf der Welt heilig ist. Schon die armen, altersschwachen Kirchenorgeln, auf denen er sich anfangs in seiner amerikanischen Heimat abarbeitete, galten manch einem wegen Carpenter als regelrecht entweiht.
Feldzug mit heiligem Ernst
Carpenter sucht die Entgrenzung, den musikalischen Rausch und agiert dabei so punkig, spontan und unkontrolliert wie ein Buchhalter. Fast schon furchteinflössend, wie überlegt und mit welch heiligem Ernst hier jemand seine Mission verfolgt: seinen persönlichen Feldzug zur «Befreiung der Orgel», bei dem er offenbar weder stilistisch noch spieltechnisch in irgendeiner Weise limitiert ist.
Und Carpenter spielt sich die Seele aus dem Leib. Den Leuten auf ihren Konzertstühlen soll Hören und Sehen vergehen. Den einen, weil der frivole Tastentiger sich für die Normen des Klavierspiels etwa so interessiert wie für einen toten, stinkenden Fisch. Den anderen aber, weil sie ihn eben nicht für banal und motorisch nur überdreht, sondern für einen brillanten, unfassbar virtuosen, beinahe schon genialen Musiker halten.
Hype um einen Sonderling
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Als 2008 sein Album «Revolutionary» erschien, tat sich für manch einen akustisch der Himmel auf. Carpenter kämpfte, ackerte, tobte sich quer durch die Musikgeschichte und spannte einen tollkühnen Bogen von Chopin bis hin zu einer selbst komponierten «Hommage an Klaus Kinski». Die Grammy-Nominierung war verdient, der Hype um den Sonderling längst losgetreten.
Seit langem hatte es das verquere Wunderkind da schon satt, auf die alten, staubigen Kirchenorgeln einzutreten, bis sie nur noch ächzten. Aus den Kathedralen war er in die Konzertsäle geflüchtet, aber auch hier hiess es, klemmende Register, schnarrende Pfeifen, die ganze launenhafte Maschinerie zu überwinden. Carpenter träumte von einer verlässlichen Gefährtin. Einer Orgel, die jeden Sound perfekt drauf hat, die nicht muckt oder sich mit majestätischem Gehabe ziert. Berechenbar sollte sie sein und willig.
Keine Seufzer mehr
Anfang dieses Jahres, nach einer mehrjährigen Entwicklungs- und Bauphase, war es endlich soweit: Die Fertigstellung seiner aufgepimpten Wunderorgel, einem digitalen Riesending mit makellosem Sound und 6 Subwoofern, zelebrierte er wie die Geburt eines Kindes. Artig gibt sie den Blick auf seine schwindelerregende Beintechnik frei und ist auch sonst ganz nach seinem Geschmack: Da ächzt nichts mehr, da seufzt nichts mehr, da klemmt nichts mehr liederlich.
Carpenter streichelt zärtlich über ihre schwarz lackierte Oberfläche. Er liebt sein High-End-Baby. Es trägt die Klänge der besten Orgeln der Welt in sich und ist komplett in seine Einzelteile zerlegbar.
Er kann es in U-Bahn-Schächte hieven oder auch in den schmuddelig-schicken Hamburger Mojo-Club zwischen Reeperbahn und St. Pauli. Nur – gewagt, unanständig und schockierend wirkt hier selbst einer wie Carpenter irgendwie nicht mehr.
Mehr Punk
Er ist ein einsamer Rockstar. Ein Berserker, der nicht nur begnadet Orgel spielt, sondern auch leidenschaftlich gern Pirouetten um sich selbst dreht. Auch wenn er sich mit seiner Orgel «to go» einen Traum erfüllt hat, wünschte man ihm ein wenig mehr Punk zurück. Ein bisschen mehr vom alten Staub und Getöse und rauschendes Blut im Gebälk, das warm und sinnlich pulsiert – menschlich und verletzlich und gerade darum betörend. Aber vielleicht hält Carpenter es ja wie Nietzsche: «Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache, Liebe zum Menschen würde mich umbringen.»