Viele Dirigenten von heute haben den Taktstock weggelegt. Sie brauchen diesen Kommandostab, diese Waffe nicht mehr. Sie verstehen sich nicht mehr als Musikgeneräle. Sondern stehen mit ihren Musikern mehr auf Augenhöhe. Nur, wie sieht das denn aus?
Geballte Faust für einen Akkord
Den Anfang machte Nikolaus Harnoncourt. Mit seinem Concentus Musicus Wien ist er seit 60 Jahren unterwegs, längst weltberühmt. Harnoncourt, das sieht nicht immer schön aus. Seine Augen rollen. Sein Gesicht spürt die derben Akzente in Mozarts «Prager» Sinfonie förmlich vorweg. Rhythmen und Phrasen gibt er mit dem Mund vor. Harnoncourt spricht die Musik. Die Hände sind mal geballt zu Fäusten, als wollte er einen Akkord packen. Nur Takte werden nicht geschlagen. Das gibt den Musikern Verantwortung zurück. Und hat zweitens die Musik aus einer Gefahrenzone entfernt: derjenigen der Uniformität. Harnoncourt, ein Pionier.
Schau, es geht mir gut
Blicken wir auf Giovanni Antonini. Handkantenschlag heisst Akzent. Eine Art Schwimmbewegung: schneller werden. Der ausgespreizte kleine Finger: irgendetwas, sicher auch wichtig. Holt der ausgebildete Flötist Antonini mal mit beiden Armen zur grossen Orchester-Umarmung aus, so krümmt er im nächsten Moment wieder den Rücken. Macht sich klein vor den Berliner Philharmonikern. Gesicht? Mal eine gehobene Braue, mal eine gerunzelte Stirn. Antonini lächelt gern. Ein Musikgeniesser. Die Soziologie lehrt uns, dass Lächeln eine Unterwürfigkeitsgeste ist. Schau, es geht mir gut. Soweit muss man bei Antonini nicht gehen. Und doch scheint er nicht immer wohl in seiner Rolle. Forza Giovanni!
Der Dirigent als Verkäufer
Der Vollzeit-Dirigent sei, sagt Daniel Barenboim, eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, «eine soziologische und keine künstlerische». Braucht es den Dirigenten überhaupt? In grossen Orchestern schon. Bei Bruckner sitzen die Posaunen so weit weg von den Geigen, dass sie sich unmöglich hören können. Und sonst? Als lebender Merkzettel, als Verkaufsargument? Der Dirigent repräsentiert sein Orchester, die Musik. Weil er ihr eine Stimme gibt. Und nicht viele.
Achtung, Sprengpulver
Er kann das gut: Teodor Currentzis. Musik sei für ihn etwas, für das man sterben sollte. Mozart erlaube uns einen Blick in die Welt, wie in ein Aquarium. Und die «Nozze di Figaro» seien Musik wie auf Kokain.
Teodor Currentzis kann formulieren. Und kann auch dirigieren. Da ist es wieder, das Mitsingen, Mitsprechen. Die Alarmbereitschaft und dann das Leiden, wenn die Töne von Verdis «Dies irae» auf seiner Gesichtshaut aufprallen. Der schlaksig gewachsene Grieche fährt die Arme aus, wenn er einen Akzent gibt. So wird daraus ein Super-Akzent. Crescendi zeigt er an, indem er leicht in die Knie geht und sich von hinten vorbeugt. Ein Grösserwerden in gleich mehreren Dimensionen. Seine enorme Körperspannung hält ihn gottseidank auf dem Podest. Currentzis, der Mann mit dem Sprengpulver.
Verrenkungen mit der Geige
Instrumentalist und Dirigent in einem, das ist Jean-Christophe Spinosi. Als das Ensemble leitender Konzertmeister in einem Flötenkonzert von Vivaldi kann man Spinosi in einem interessanten Moment sehen. Er ist Teil des klingenden Kollektivs. Er gibt Einsätze, zeichnet dynamische Kurven für das ganze Ensemble. Damit wächst er über seine Stimme hinaus. Muss sich aber auch verrenken nach hierhin und dorthin. Der Bogen, halb als Taktstock in der Luft, halb auf den Saiten, hat es schwer. Der Schritt, das Instrument wegzulegen, ist naheliegend. Ein historischer Schritt, stammt der Dirigent doch vom Konzertmeister oder vom Cembalisten.
Halb Eunuch, halb Gott
Dieser Schritt wurde vollzogen. Das 20. Jahrhundert hat eine Reihe von Pultstars und Taktstock-Göttern hervorgebracht. Von Vollblutdirigenten, von Mitmusikern, die es zufällig nach vorne verschlagen hat. Von Musikbesessenen, denen das Instrument zu eng wurde. Eines ist diesen Dirigenten fast allen eigen. Sie bringen aktiv keinen Klang hervor, gehören nicht zur Musik-Gesellschaft Orchester. Seien die Mitmusiker nun der Kumpel oder nicht. Sie spielen eine Rolle irgendwo zwischen Eunuch und Gott. Eine Rolle, die – wen wundert’s – stets neue Paradiesvögel hervorbringt.