Im 8. Jahrhundert begann es. Auf einer schmalen, langgestreckten Insel im Rhein wurde, nicht weit hinter den Schaffhauser Rheinfällen, ein Benediktinerkloster gegründet. Es wuchs, wurde immer prächtiger, häufte links und rechts des Rheins gewaltige Besitztümer an und durchlebte über die Jahrhunderte hinweg eine wechselvolle Geschichte.
Die barocke Klosterkirche wurde in den letzten Jahren aufwendig restauriert und erstrahlt jetzt in neuem Glanz. Zur feierlichen Wiedereröffnung Mitte Juni dieses Jahres schrieb der Komponist Ulrich Gasser das Oratorium «Ex voto – ein Magnifikat».
«Ex voto», «aus einem Gelübde heraus» haben im Lauf der Jahrhunderte Tausende Gläubige symbolische Opfer dargebracht, weil sie eine Notlage überstanden hatten, weil sie einen Blitzschlag überlebten oder die Kühe nach einem Unfall unverletzt waren. Meist in Form von Votivtafeln als öffentlich sichtbarer Dank.
Last alle Erwartungen fahren
Zitate dieser Votivtafeln hat Ulrich Gasser mit traditionellen liturgischen Texten verwoben. Dazu kommen neu geschriebene Texte von Eva Tobler, der Pfarrerin der Klosterkirche und Ehefrau des Komponisten.
Was das für ein Stück ist? Erwarten sollte man nicht geistliche Musik und nicht dramatische, nicht zeitgenössische und nicht traditionelle, nicht aufwühlende, nicht beruhigende Musik. Es ist nichts von dem – und hat alles von dem.
Meditation und Trance
«Ex voto – ein Magnifikat» ist erstens ein auskomponiertes Gebet, zweitens eine 80-minütige Meditation, die immer mehr zur Trance wird, und drittens eine Komposition nur für diesen Raum, diese Kirche. Vorn und hinten und seitlich, oben und überall im Raum hat es Chöre, Solisten, kleine Ensembles, mal ein einzelnes Cello, mal eine Harfe, mal eine Brassband.
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Im langen Nachhall des Kirchenraums verschwimmen die Melodiefetzen, die Stimmungen überlagern sich: Die Orgeln spielen in alter, tiefer Stimmung, die Sängerinnen und Instrumentalisten halten mit modernen, hohen Klängen dagegen. Alles schwebt.
Das Publikum ergibt sich
Nach wenigen Minuten ist das Publikum gefangen, hört sogar auf zu husten, ergibt sich einer wabernden Klangwolke, versinkt in Trance – bei der es noch dazu genug zu sehen gibt: Die Details des prachtvoll renovierten Kirchenraums laden geradezu ein, sich in ihnen zu verlieren. Ebenso die Musik: In ihrer Mischung aus Dur-Strahlen und mikrotonalen Einfärbungen tut sie nicht weh, hüllt ein, überwältigt im Breitwandsound, beruhigt sich wieder und ist vor allem eines: statisch.
Das ist etwas, das Gasser ganz bewusst so wollte: Die Statik der Musik entspricht dem äusserlich unbewegten, meditativen, betenden Menschen – im Inneren des Menschen aber wie auch in den Binnenstruktur der Musik passiert viel.
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Die Klosterkirche hat die perfekte Grösse
Ist das avancierte zeitgenössische Musik? Ja und nein. Sie spielt mit dem Raum, spielt mit Erinnerungen an ferne Zeiten, als im Markusdom des 17. Jahrhunderts auf jeder Empore ein anderer Chor sang. Aber als gemässigt moderne neue Kirchenmusik funktioniert sie auch sehr gut.
Die Klosterkirche Rheinau hat die richtige Grösse. Sie ist keine gigantische Westminster Abbey, in der alles zum Klangbrei wird, sie ist auch nicht eine kleine Kirche mit trockener Akustik, die keine Fehler verzeiht. Die Rheinauer Akustik verzeiht durchaus, da ist es egal, ob alle gleichzeitig einsetzen – irgendwann treffen sich schon wieder. Deshalb ist es auch grossartig, dass sie alle mitmachen, die Profis vom Vokalensemble Zürich und die Amateure aus der näheren und weiteren Umgebung – mindestens 80 Leute.
Fatalismus und Pathos
Das Fazit? Gassers Magnifikat ist Gotteslob, gewiss. In der Wirkung ein Gotteslob, das sehr geschickt komponiert ist für genau diesen Raum, genau diese Mitwirkenden. Und in der Haltung ein Gotteslob, das die Sehnsucht nach einer Zeit spüren lässt, in der das Weltbild noch klar war und die Kirche eine verlässliche Grösse. Ein Gotteslob, das imprägniert ist von einer Portion Fatalismus und Pathos. «Worüber wir uns noch freuen können», sagt Gasser, «darüber sollten wir uns freuen und wenn es nur dies ist: Dass wir noch leben. Grund genug zum Dank.»