Jean Sibelius sorgt bis in die jüngste Gegenwart für Kontroversen. Der finnische Musikwissenschaftler Tomi Mäkelä wartet mit einer neuen Darstellung des Komponisten auf. Ihm geht es darum, das Bild von Sibelius zu entzaubern. Über die musikalische Analyse hinaus soll Sibelius' Rolle im Nationalsozialismus untersucht werden. Nun regt sich Widerspruch in der Sibelius-Gemeinde Finnlands.
Mäkelä verrate den Komponisten und mit ihm den verdienstvollen Forscher Erik Tawaststjerna. In den USA hingegen wird versucht, den als nationalkonservativ bezeichneten Komponisten als Nazi darzustellen.
Liebäugeln mit konservativem Gedankengut
Was liegt vor? Jean Sibelius’ Muttersprache war schwedisch. Finnisch, damals die Sprache der Bauern und Bediensteten, lernte er neben Deutsch, Französisch und elementarem Russisch in der Schule.
Bis heute ist umstritten, ob Sibelius wirklich zweisprachig war, obwohl er in eine konservative finnische Adelsfamilie einheiratete und mit dem nationalkonservativen Gedankengut seines Bekanntenkreises liebäugelte.
Vom Dritten Reich gehuldigt
1917, als Lenin zum Jahresende die Unabhängigkeit Finnlands anerkannte, habe er «elitär royalistisch» gedacht und nicht liberal-demokratisch. 1932 komponierte er für die rechtsradiakle Lapua-Bewegung einen «langweiligen» Marsch, präzisiert Tomi Mäkelä.
«Sibelius war sicher kein Nazi», er sei jedoch ein strikter Anti-Kommunist gewesen und habe sich die Huldigungen durch das sogenannte Dritte Reich gerne gefallen lassen, sagt Erkki Kohonen, Direktor der Sibelius Hometown Foundation.
Ein zerpflückter Magier …
So kürte man den Komponisten 1935 mit der silbernen Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft und rief 1942 die erste deutsche Sibelius-Gesellschaft ins Leben. Das stiess den nazikritischen Kreisen auf. 1937 hatte sich erstmals der Philosoph und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno mit der folgenreichen «Fussnote» zu Wort gemeldet und die ökonomisierte Begeisterung für den «Magier» aus Finnland zerpflückt.
Sibelius schwieg. «Das war ein grosser Fehler», sagt Mäkelä, «ihm lag es daran, allen zu gefallen.» Gefälligkeitsmusik hingegen hatte der auch von den USA und England hofierte Komponist keine komponiert. Eine Kriegssinfonie wie sie etwa sein Freund und Frontsoldat Einar Englund 1946 schrieb, blieb aus. Über sein Schweigen als Komponist wird spekuliert.
… aber durchaus geschätzt
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Einem Journalisten nannte er im Rückblick psychische Gründe, hervorgerufen durch «Zerstörung und Massenmord». In über 20 Jahren, sagte Sibelius, habe er nichts geschaffen, «was ich mit ruhigem Herzen der Öffentlichkeit hätte übergeben können.»
Sibelius’ Musik, insbesondere seine sieben Sinfonien, werden über Finnland hinaus vor allem in den angelsächsischen Ländern geschätzt. Hierzulande hält man sich zurück. Die Gründe sind hegemonialer Natur: Da streiten sich Anhänger unterschiedlicher Schulen um die Definition der modernen Musik.
Wegweisend für vielfältige Neuerungen
Die Anhänger des Komponisten Arnold Schönbergs erklärten Sibelius’ Verfahren als unmodern. Sein Festhalten an tonalen Bezügen und an der gross besetzten Form der Sinfonie machte ihn verdächtig. Dabei ging vergessen, dass seine Verfahren wegweisend waren für eine Moderne dritter Art.
Die Synthese von Statik und Dynamik, der Umgang mit der Zeit und ihrer Aufhebung sowie die aus Keimzellen entwickelten repetitiven Verfahren sind wegweisend für die Vielfalt an Neuerungen in der Musik des 20. Jahrhunderts.
Die US-amerikanische Minimal Music eines Steve Reich, aber auch die ziselierte Polyphonie eines György Ligeti sind in Sibelius’ progressiven Werken angelegt. Dass er daneben trivialisierte Gebrauchsmusik schrieb, hat seinen Ruf beschädigt. Es sei höchste Zeit, sagt Tomi Mäkelä, sich mit unverstelltem Blick den Licht- und Schattenseiten des Komponisten zu stellen.