Vor vielen Jahren – damals als Cellistin – hörte ich es zum ersten Mal: das Schweinegrunzen. Es war der Komponist selbst, der den Begriff ins Spiel brachte. Anlässlich einer öffentlichen Unterrichtsstunde sagte er: «Es muss tönen wie Schweinegrunzen!» Seither begleitet mich dieses Wort. Und immer, wenn ich etwas mir völlig Unbekanntes, Unvertrautes und Neues höre, denke ich: Schweinegrunzen.
Musik aus Geräuschen
Besagtes Schweinegrunzen kommt in «Pression» für Cello solo vor, 1969 komponiert vom deutschen Komponisten Helmut Lachenmann. Lachenmann, der dieses Jahr 80 wird, beeinflusst und beschäftigt bis heute die Musikwelt mit seiner Klangästhetik und seinen musikphilosophischen Gedanken und prägt den Diskurs rund um aktuelle Fragen der Kunst und Gesellschaft.
Damals, 1969, spiegelte «Pression» die Krisen und Umbrüche der Zeit. Das Stück besteht nur aus Geräuschen, so als hätte Lachenmann das Vertrauen in die Töne verloren. Allerdings sind diese Geräusche fast unhörbar, zart und zerbrechlich. Nur einmal muss auf den Saitenenden unterhalb des Steges gespielt werden, und zwar mit höchstem Druck, und dies während mindestens einer Minute. Dabei entsteht ein schreiendes, unangenehmes Geräusch, welches das Publikum aufschreckt: eben das Schweinegrunzen. Es wirkt wie ein Protest, wie ein alle Grenzen sprengendes Zeichen. Je länger ich es als Cellistin übte, desto lieber bekam ich dieses Geräusch. Ich nahm wahr, wie sich das Grunzen zu einem reichen und mehrschichtigen Klang voller aufregender Schwingungen entfaltete.
Seither ist dieses Schweinegrunzen für mich zu einer Art Schlüsselreiz geworden. Immer wenn ich im Leben und in der Musik eine besonders aufgeladene, echte Energie und Kraft, etwas Neues und noch nie Dagewesenes erlebe, kommt es mir in den Sinn.
Neue Klangwelten
Das Schweinegrunzen ist seit 1969 frisch geblieben. Auch in heutigen Kompositionen finde ich es immer mal wieder, wenn auch in anderer Form. Zuletzt hörte ich es in einem Werk der 33-jährigen deutschen Komponistin Brigitta Muntendorf, in «The Key of Presence» für zwei Klaviere, Live–Elektronik und Kontaktmikrophone.
Das Werk verbindet verschiedene Aspekte aus Muntendorfs Leben: experimentelle Klänge, das Gedicht eines Freundes, Popsongs, die sie selber schreibt. Ein sehr persönliches Werk, das in vielfachen Überlagerungen die unendlichen Möglichkeiten der vernetzten Welt aber auch das Überangebot an Informationen reflektiert. Dabei müssen die Pianisten auf komplizierte Weise nicht nur Klavier spielen, sondern gleichzeitig auch im Innern des Flügels zupfen, auf seinem Rahmen klopfen – und auch der eigene Körper wird zum Perkussionsinstrument.
Mit Lachenmann hat diese Musik nichts zu tun. Und trotzdem hörte ich es hier wieder: das Schweinegrunzen. Denn Muntendorf eröffnet mir – genauso wie Lachenmann – völlig neue Welten: Ich sehe zwar normale Instrumente, ein Cello bei Lachenmann, zwei Konzertflügel bei Muntendorf. Was ich aber höre, ist etwas ganz anderes, etwas Aufregendes, Überraschendes, noch nie Dagewesenes. Schlicht: eine einzigartige Hörerfahrung!
Grasende Kühe
Lachenmanns Schweinegrunzen hat mir für alle Zeiten die Ohren geöffnet. Seither höre ich Musik anders. Und nicht nur Musik. Ich höre überhaupt anders. Nehme die Geräuschwelt um mich herum viel bewusster wahr. Zuallererst würdige ich natürlich das Grunzen der Schweine sehr viel mehr, wenn ich an einem Bauernhof vorbeispaziere. Vor allem aber werden auch andere Alltagsgeräusche zu aufregenden Klangerlebnissen. Haben Sie zum Beispiel schon einmal nachts in völliger Dunkelheit einer Kuh beim Grasen zugehört: geisterhaft! Oder achten Sie sich mal wie es klingt, wenn die Tomaten auf Ihrem Balkon oder in Ihrem Garten langsam rot werden. Öffnen Sie Ihre Ohren – und Sie sitzen immer in der ersten Reihe des weltbesten Konzertsaals!